Anhang zu Vortrag 01:
Kurze Geschichte der linken Theorien
Ich glaube, dass sich die linken „Schismen“ wesentlich als Teil der Entfaltung gesellschaftlicher (bürgerlicher) Verhältnisse lesen lassen – die Entwicklungsgeschichte der linken Positionen als parallel laufend zur historischen Ausdifferenzierung und eigentlich Reifung des bürgerlichen Systems.
Die Arbeitshypothese, der ich da nachgehen möchte, lautet also: Dass die Art Fuge, oder der Spalt, an dem sich Anarchisten und „Marxisten“ getrennt haben, seither wiederholt aufgetreten ist, sich vergleichbare Spaltungen (wenn auch nicht so fundamental) daran entfaltet haben; und dass dies eben genau die Form ist, in der die Linke die Entwicklung ihres theoretischen Gegenstands und praktischen Gegners notgedrungen mitvollzogen hat.
((Wenn man ganz genau hinschaut, ist das Auftreten der Linken selbst eine Spaltung an einer solchen Fuge – in der Gruppe der Aufklärungs- und Modernisierungs-Befürworter; und hat sich bei dieser Gelegenheit selbst so eingeführt: Als diejenigen, die angesichts dieser historischen Herausforderung „kollektivistisch“ weitergehen wollen (und das, sei es aus dem Stand heraus, oder aber über Zwischenstadien („Sozialismus“, Rätedemokratie, Absterben des Staates etc) – für möglich halten); im Gegensatz zu denen, die beim eingetretenen „bürgerlichen“ Zustand (hier wieder getrannt nach: eher klassisch-liberal-elitär oder demokratisch-egalitär) tstehenbleiben. Man kann fragen, ob nicht selbst dem noch eine ältere Spaltung in der Aufklärung (zur Zeit der frühen Industrialisierung (Manufakturepoche) und „Modernisierung“) und der sie tragenden Bevölkerungsgruppen oder Klassen, vorausging: In jene, die die soziale und politische „Modernisierung“ untrennbar mit der wissenschaftlich-technisch-industriellen verbunden sehen, und „Konservativen“ (Reaktionären, „Faaschisten“) bzw „Fundamentalisten“ , die da eine Trennung machen. Schliesslich Traditionalisten, die Moderne als ganze und zur Gänze oder zumindest in entscheidenden Hinsichten ablehnen…))
Mein theoretischer Ansatz (ich erhebe keinen Anspruch auf Originalität) entfernt sich keineswegs allzu weit von den klassischen; ich betone allerdings mehr die Entwicklung des (vorübergehend) RICHTIGEN Bewusstseins, und nicht so sehr des falschen. Des richtigen insofern, als die Akteure mitten in einer historisch erfolgreichen Problemlösung halbwegs sachgerechte Auffassungen von dem haben müssen, was sie da gerade tun, die dafür nötigen Begriffe und sonstigen kognitiven Operationen und Praktiken ausbilden müssen usw; – und das bezieht sich sowohl auf die Ebene der Produktivkraftentwicklung (des sachgerecht „gesellschaftlich“ organisierten Verhältnisses zu Wissen, Wissenserwerb, der Reproduktion und ihres Fortschritts: Ko-Operation, kollektive Praxis) als auch der dafür sachgerecht einzurichtenden Formen von Koordination und Konsensfindung. So weit, so trivial.
Diese Praxis-Kategorien waren es aber, die im Zuge der Aufklärung im 18.Jahrhundert in den historischen Blick rückten, und zwar unter dem zeitgemäss zentralen Gesichtspunkt eines beschleunigten Fortschritts, einer „Entfesselung der Produktivkräfte“ durch explosive Wissenserwerbe mit technisch nutzbarer Relevanz (Geräte, Materialien, Verfahren): Wie diese Dynamik, diese Beschleunigung arbeitsteilig bewältigen? – in Gesellschaften, die das bislang nur „ständisch“ eingerichtet hatten. Es war nichts weniger als selbstverständlich, dass zB die vom frühneuzeitlichen Staat oder auch Regional- und Stadt-Herrschaften/Patriziaten „ständisch“ regulierten Markt-Mechanismen der Koordination von Arbeitsteilung diesen Übergang bewältigen konnten. Das Phänomen des Spaltungs-trächtigen Spalts, der „Fuge“, beginnt wirkmächtig zu werden, so meine ich, bereits in der Ur-Spaltung in bürgerlich und links, wo die eben entstehende früh-sozialistisch und utopisch-naive Linke für die nicht mehr ständische Produktivkraft-Explosion und zugehörige Praxis deren naturwüchsige Kollektivität behauptet: Die Produzenten sind demnach bereits an sich TECHNISCH vergesellschaftet, verbunden durch das geteilte und ihnen als Produzenten ja offensichtlich verfügbare explodierende technische Wissen; wohingegen bürgerlich darauf beharrt wird, dass auch diese Wissensexplosion und die Innovationen „privat“ entstehen und somit zurecht auch so angeeignet sind. Dabei sieht die erste, die linke Partei in dieser Aneignung das historisch überkommene, gewaltsame, noch immer quasi-feudale Privileg und zu beseitigende Hindernis für eine an sich, „naturwüchsig“ spätestens jetzt hervorbrechende bzw durch die Anstrengung der vorangegangenen Epochen entstandene Kollektivität; die bürgerliche hingegen im Eigentum und der individuellen Aneignung AUCH von Innovationen das mit der Vor-Epoche nach wie vor übergreifend Gemeinsame, das hier nur durch ein neu erschlossenes Problemfeld herausgefordert und ihm (durch Ausbildung entsprechender Institutionen) angepasst werden muss.
Die These, die ich (ohne darin womöglich, ich wiederhole es, besonders originell zu sein) aufstelle, lautet: Diese Spaltstelle wird sich ab da entlang der Reihe der Ko-Operations-Kategorien: (kollektive) (komplexitäts-bewälrigende) KOORDINATION, (diversitäts- und konflikt-bewältigende) KONSENSFINDUNG sowie (sachgerechte) BEURTEILUNG (unter Bedingungen extrem beschleunigter, „industrieller“ Wissens- und Technologie-Produktion) fortbewegen – genauer gesagt, sie HAT sich längst dahin fortbewegt. Die zugehörigen Auseinandersetzungen zwischen LINKS und BÜRGERLICH (wo eine parallele Entwicklung stattfindet) ergänzen sich durch INNER-LINKE; die erste Spaltung DIESER Art ist eben die altehrwürdige zwischen Anarchisten (den ursprünglichen, utopischen, Früh-Sozialisten) und (späteren) „Marxisten“ (die ab da hinzukommen): KOORDINATION wird da als eine historisch eigens zu lösende Aufgabe, als Problem, entdeckt; der Kommunismus der utopisch-sozialistischen und anarchistischen Entwürfe für eine Produzenten-Assoziation sieht diese Aufgabe als auf der TECHNISCHEN Ebene leicht lösbare, wenn nicht bereits gelöste an. Und setzt sich damit naiv über die Anforderungen der modern-industriell veränderten, auf Dauer gestellten Innovativität und der dadurch erforderlichen Dauer-Anpassung (Umwälzung) der Produktions-Organisation hinweg. Nicht hingegen tut das die bürgerliche Partei: Die SIEHT hier nämlich das gewaltige Problem, das einzig durch ebenso gewaltige (und gewalttäige) ständige institutionelle Anpassungs-Operationen angegangen werden muss – für SIE ist es eben keine Selbstverständlichkeit, dass der Markt und die Privat-Beziehungen in ihm mit dieser Innovativität fertigwerden (weshalb sie denn auch das unerwartet immer wieder erfolgreiche Bewältigen des Koordinations (usw)-Problems als historische Errungenschaft bespricht, die nicht einfach preisgegeben werden darf). Dem schliesst sich der ursprüngliche Marxismus, GEGEN die Anarchisten, an: Die Notwendigkeit, Koordination (und darin eingeschlossen die mit zu lösenden Aufgaben Konsens und Urteilsfindung) angesichts extrem beschleunigter Innovativität der Produktionsweise zu ermöglichen, wird als vorübergehend nur durch Hierarchie- und Klassen-Bildung, also „vertikale Arbeitsteilung“ lösbar, anerkannt. Die Realisierung der egalitären, der „kollektivistischen“ Utopie setzt darum einen Reifeprozess des Kollektivs (also DER GESELLSCHAFT) voraus, der sie, unbestimmt wie, zur gemeinschaftlichen Übernahme dieser Aufgabe befähigt.
Die vielleicht nicht mehr so häufig vertretene Anschlussthese an diese erste wäre: Dass sich diese Verlaufs-Figur an der (grob so umschriebenen) Kooperations- bzw kollektive-Praxis-Bestimmung oder Kategorie KONSENSFINDUNG wiederholt; wobei der Markt (ebenso wie zuvor die technisch-wissenschaftliche Arbeitsteilung) und seine Koordinations-Leistung zum untergeordneten Moment herabsinkt. Neu ist, dass hier die marxistische Theorie das Spalt-Verhältnis selbst thematisiert, nämlich als das von „Basis“ und „Überbau“ – die (alten) Marxisten geraten hier nun selbst in die Position, die an der ursprünglicheren Spaltstelle die Anarchisten eigenommen hatten: Sie beharren darauf, dass mit der Übernahme der Produktionsmittel durch die (mittlerweile ertüchtigte) Arbeiterklasse alle Probleme gelöst sind. Die Gedankenfigur der nötigen Entwicklung wiederholt sich aber, eine Stufe höher, jetzt wird trotz dieser Übernahme ein weiteres Reifungsstadium namens Sozialismus vorgeschaltet, was der Tatsache Rechnung trägt, dass „Kommunismus“ eine erst noch auszubildende Fähigkeit zur Konsensfindung erfordert, die durch die immerhin im Zuge fortschreitender Industrialisierung erworbene Planungs- und Koordinations-Kompetenz der Produzenten allein, selbst WENN sie sie ausgebildet haben, noch nicht verbürgt ist. Im Zusamenhang mit der Basis-Überbau-Konzeption ist dann noch ein weiterer impliziter Schritt in der Selbstreflexion der beteiligten Fraktionen zu bemerken: Das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnis kehrt sich unterderhand um, die KLASSEN-Kategorien rücken immer mehr ins Zentrum der Betrachtung, die zugrundeliegende technische und wissenschaftliche Entwicklung ist teils im Wechselverhältnis damit, oder sinkt irgendwann zum untergeordneten Moment herab (beides zusammen wird freilich weiter als „Produktionsweise“ und insofern „Basis“ besprochen.)
Parallel zur bürgerlichen Entwicklung, also dem angesichts vielfältigen „Marktversagens“ zum Kapitalismus-Retter „reifenden“ bürgerlichen Staat (dem Unfähigkeit zur adäquaten Problemlösung und „Fäulnis“ attestiert wird im selben Mass, wie sich die linke Alternative zur Lenkung der Produktion und staatlichen Schlichtung aller anfallenden Konflikte befähigt sieht), wird nun dem sozialistischen Staat eine überragende Rolle im Aufbau der Produktionsweise zugeschrieben: Nicht nur ist er, der die letzt-verbliebenen Klassenkonflikte (im Gegensatz zu seinem bürgerlichen Pendant, das sich weiterhin damit herumschlagen muss) als „Muttermale der alten Gesellschaft“ souverän wegarbeitet, aus einem Überbau-Bestandteil zu einem der Basis geworden – er ist vielmehr sogar deren massgeblichs Zentrum: Planmässige Koordination der Produktion unter Bedingungen der ständigen Innovation und des Fortschritts („Produktivkraftentwicklung“) sowie das ständige konkrete Einrichten der je aktuellen technischen Arbeitsteilung werden von ihm souverän mit-gemeistert.
Es versteht sich, dass hier den ursprünglichen „orthodoxen“ und „linken“ (rätedemokratischen) und somit anarchismus- und utopie-näheren älteren Marxisten die Vertreter der sozialistischen Staatsprogramme im 20. Jahrhundert gegenübertreten; wobei sich Anlässe zu internen Spaltungen in charakteristischer Weise entfalten anhand allfälliger Versuche, sich von der (übergreifenden, weit- und umsichtigen) Koordinations-Anforderung durch (vorübergehende) Einschaltung „marktwirtschaftlicher“ Elemente zu entlasten. Auch hier findet parallel die Ertüchtigung „bürgerlicher“ Staatlichkeit als Regulierungs-Instanz bei Marktversagen (New Deal) und entgleisenden Klassenkämpfen (Sozialstaat usw) statt. Dazu wäre nun allerhand zu sagen, ich will nur darauf hinweisen, dass sich heute bereits eine weitere Stufe abzeichnet, die bezeichnenderweise (einmal mehr) durch linke Theoretiker vorbereitet wurde: die ZIVILGESELLSCHAFT, die sich vom blossen Epiphänomen des (bürgerlichen, oder auch sozialistischen) Staats, also blossen Überbau. zum entscheidenden Moment der Basis, der Produktionsweise, hocharbeiten MUSS: weil es in ihr endgültig um die nicht mehr interessengebundene freie SACHGERECHTHEIT der gesellschaftlichen URTEILSBIDUNG (statt subjektiver Meinungen und autoritär vertretener Überzeugungen) geht. Dass hier gerade eine neue und gravierende Anforderung vonseiten der Produktivkraft-Ebene entsteht, wird durch die trübenden Effekte der dazwischentretenden und vermittelnden politischen Agenturen Markt und Staat etwa in der Corona-Episode kaum noch durchschaut: Dass wir ein Problem mit der nicht mehr zu bewältigenden Wissensfülle in den nicht in traditionell „produkt“-förmiger Weise (Gerät, Verfahren, Material) verwertbaren Wirklichkeits-Bereichen haben, also den System-Anteilen der uns umgebenden Welt, wird in den allzu politisierten Analysen auch der massnahmenkritischen Linken nicht gesehen. (Man muss sich die Reihe, die mit dem eher mickrigen Corona-Problem beginnt, nur verlängert denken um die Themen Energiewende und Klimawandel, um zu ermessen, womit man es da zu tun bekommt. Vom Verhältnis der Techno- zur uns derzeit noch einbettenden Biosphäre ganz zu schweigen, und der Frage der insgesamt einzuschlagenden Fortschrittsrichtung…)
Es ist damit, auf der Produktivkraftebene, die Frage aufgeworfen, ob das Aufklärungsprojekt, das Projekt der Moderne, an eine Grenze, genauer eine EPOCHEN- wenn nicht FORMATIONSGRENZE stösst. Diese Kategorie wurde in der marxistischen Tradition (immerhin die beste Geschichtstheorie, die wir überhaupt haben, soviel ist zuzugestehen) nicht auf die Produktivkraft-Ebene bezogen gedacht, anders gesagt, die Artikulierung der Zivilisationsgeschichte in Termen von Produktivkraft-Entwicklungs-Aufgaben als Epochengliederung (in die grossen Formationen), die allererst auch zugehörige Produktionsverhältnisse nach sich ziehen, wurde, nicht zuletzt mangels Kenntnissen über frühgeschichtliche bzw aussereuropäische Phasen und Epochen, von den Klassikern nicht in Betracht gezogen. Da ist in der materialistischen Geschichtstheorie einiges nachzuholen.
Ebenfalls schwach ausgebildet ist die begriffliche Durchdringung der SUBJEKTIVEN Seite der Kategorien Produktivkraft-Stand und Produktionsverhältnis (in ihrer Bezogenheit aufeinander); hier ist die marxistische Tradition ihrer eigenen materialistischen Vorgabe wenig gerecht geworden, nämlich „Gesellschaftliches“ immer aus den Interaktionen realer Einzelpersonen zu erklären, wohingegen speziell die Gesellschaftstheorie der Linken allzu schnell von einer quasi Skalierbarkeit massenhaft ausgebildeter individueller Standpunkte zu einem „gesellschaftlichen“, etwa einem Klassenstandpunkt, ausgeht. Was zur Beschreibung statischer, vor allem vormoderner oder anmodernisierter Verhältnisse, mit ihren halb noch ständisch intakten Milieus, vor allem den Kleinbürgern, Bauern usw als vormodernen Rest-Beständen, angeht; aber nicht zur Beschreibung GERADE jener Prozesse, die doch der an Umwälzungen in der Theorie ganz besonders interessierten linken Theorie am meisten am Herzen liegen musste, nämlich EPOCHENÜBEGÄNGEN (an denen gerade die Produktivkraft-Ebene mit Kategorien wie „Krise, Klassenkampf, Revolution oder Absturz in Barbarei“ nicht erfasst wird; wie im vorhergehenden Punkt schon ausgeführt).
Die Behebung dieser beiden fundamentalen Mängel in der linken Theorie (Ausdruck ihres, böse gesagt, IDEALISMUS) steht an: Eine materialistische Theorie des „subjektiven Faktors“ oder der subjektiven Pendants von Produktivkraft und Produktionsverhältnis, ich gebe ihnen den provisorischen Namen: Weltverhältnis und Vergesellschaftungskomzept; und eine ebenso materialistische Rekonstruktion der wesentlichen Schritte in ihrer Entwicklung in 5000 Jahren Zivilisationsgeschichte. Denn wenn die Geschichte, AUF DER PRODUKTIVKRAFTEBENE, vor allem eine Geschichte des kollektiven LERNENS (vor allem, wie und was zu lernen ist; zentral dabei natürlich: des know-how, des Wissens, etwas zu tun, zu handeln, zu produzieren) ist: Dann macht Theorie von „Gesellschaft“, als vorübergehende Etappe in diesem Prozess, nur Sinn, wenn man ihre Stellung (also die der Einzelmitglieder dieser Gesellschaft) in diesem übergreifenden historischen Ablauf angeben kann: Gesellschaftstheorie ist Teil der Geschichtstheorie; nicht umgekehrt.
All das wird nicht funktionieren ohne eine fundierte materialistische Anthropologie, eine Handlungstheorie oder Theorie der Praxis überhaupt. Dabei wird man sich weniger orientieren können an den Leistungen der sowjetischen kulturhistorischen Schule (Vygotski, Leontiev usw), als an den Vorarbeiten von WITTGENSTEIN zur Sprachtheorie. Man kann Klaus Holzkamps ehrenwerte theoretische Bemühungen um eine solche Grundlegung der Anthropologie (und damit dann auch Psychologie) nehmen als Ausgangspunkt, um zu sehen, welche Lücke da zu füllen ist.
(Von den mittlerweile sichtbar gewordenen Schwächen der Marxschen Politischen Ökonomie, die zu beheben wären, war dann noch garnicht die Rede. Oder vom Stellenwert der Ökonomie überhaupt)