Teil II



Vortrag 4a: Grundsätzliche Überlegungen zum Übergang von OPP in REL (OPP Scheitern)(Forts. von 3c)

Jetzt geht es um den Übergang in ein neues Weltverhältnis, und die Frage, wie dieser Übergang historisch im Prinzip zustandegekommen sein kann. Das Problem ist hier in einem gewissen Sinn noch stärker ausgeprägt als beim OPPortunismus in der internen Entwicklung der Normalplaner, weil es tatsächlich eine unendliche Vielfalt an Formen gibt, in denen sich dieser Übergang abspielt, und es hat mit Sicherheit tausend oder zweitausend Jahre historische Entwicklung gebraucht, um das einigermassen zu absolvieren. Ich werde jetzt gleich sagen, worum es geht.

1.
Es geht darum, dass die Einbettung des Regelsystems der Reproduktion in eine empirische Fragestellung aufgehoben wird – , wo gefragt werden kann, unter welchen Bedingungen dieses Regelsystem aufgezweigt werden kann, einerseits, und andererseits gesucht werden kann nach dem richtigen und vollständigen System der Erwartungen, in letzter Instanz dessen, womit überhaupt zu rechnen sein soll, im guten wie im schlechten – zumindest in einer bestimmten Umgebung. Diese Art Fragen also sollen so nicht mehr gestellt werden. Anders gesagt: Das Abhängigmachen der „Normalität (oder bewährten Regularität) der Reproduktion“ von Bedingungen, und das Erwarten-Dürfen und Nicht-Erwarten-Müssen, soll komplett ausgeschaltet werden
Man muss sich vor Augen halten, dass die Entwicklung der Vergesellschaftungskonzepte von Normalplanern letztlich an der Peripherie ihrer Reproduktionsweisen stattfindet – also immer nur, wenn etwas Ausserordentliches passiert. Das kann zwar recht eingreifend oder umstürzend sein, aber es wird eben nie die ganze Normalität aufgelöst, und in welchem Umfang das eben KEIN Weltverhältnis ist, merkt man im Rückblick, wenn man bedenkt, dass die Regeln, mit denen etwa Interessen und (das müsste man jetzt gleich noch dazusagen) das Pendant zu den Interessen auf dem kognitiven Feld, also die „zulässigen“ Überzeugungen.. oder eben MEINUNGEN, die zu haben opportun, zumindest nicht anstössig ist („Overton-Fenster“!) beurteilt und behandelt werden angesichts all dessen, was bereits oder noch so alles gewusst und gedacht wird – dass diese Regeln der Staatsräson, die die elaboriertesten sind, zu denen sich Normalplaner vorarbeiten können – allein schon thematisch komplett determiniert sind durch das, was in ihrer Gesellschaft an – dem gegenüber unausgereiften – Plänen, Projekten, Forderungen usw unterwegs ist. Das heisst, da gibt es überhaupt kein(e Regel für ein) Weltverhältnis, es verhält sich indirekt zur Welt als das, was man befürwortet im Sinne der Staatsräson, etwa, wenn die Gesellschaft gross genug ist, des grössten Glücks der grössten Zahl usw – es bezieht sich nur indirekt überhaupt durch die unreifen und emotional aufgewühlten (entsprechend empört auch mit „berechtigten“ Forderungen an andre einhergehenden) Pläne und Überzeugtheiten der Andern auf „die Welt“. Also deren, wenn man so will: aufsummierte Welterfahrung wird da auf eine höchst prekäre Weise aufbereitet, indem man eben auf das Haltbare in ihren Entschlossenheiten und Überzeugtheiten zurückgeht, und auch das lässt man sich nur aus Anlass von und langdauernder Erfahrung mit Ausnahmesituationen zeigen. Es gibt garkeine Regel für den Regelfall, der ist ja (ganz ohne irgendeine Regel für seine Ableitung) immer schon da für jemanden, der überhaupt (an seiner Normalität) einen Masstab und ein Regelwerk hat, auch wenn er ihn und es im Laufe seines Lebens oder des Lebens der Andern abgeändert hat.

2.
Das, nebenbei, ist auch der Grund, warum ich in meinem internen Konzept das Kürzel OPP für OPPortunismus benutze – das ist nicht so bösartig, wie es klingt, nur einfach dem lateinischen Wortsinn entsprechend gewählt: Die oberste Lernregel, die diese Normalplaner benutzen, ist keine allgemeine; es ist eine, die sich anlehnt an Anlässe, Anstösse, Gelegenheiten des Lernens, denn genau das sind die Ereignisse, in denen etwas anders kommt als erwartet – und da und nur da soll also (dazu)gelernt werden; das wurde ja bereits zur Genüge dargestellt. Dieses OPPortunistische Lernen verbietet es, gewissermassen ins Zentrum der Normalität zu schauen, und sich zu fragen: Wie ist denn das zustandegekommen, und ist das rational? Es muss vielmehr angenommen werden, dass da jedenfalls etwas schon sehr, sehr Optimales, dem Optimum Nahes vorliegt, das durch weitere Erfahrung allenfalls noch weiter optimiert werden kann. Aber diese Normalität selber infragestellen darf man nicht, die im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende natürlich eine komplett andere ist als irgendwann davor; nur die jeweils letzte – die ist auf jeden Fall die der Welt best-angepasste. Vorläufig. Also das ist natürlich ein – wenn man so will – Verfahren des UMLERNENs, und Sich-Anpassens, an jeweils natürlich auch vorfindliche gesellschaftliche Realitäten, es entspricht also auch in vielen Hinsichten dem, was etwa normale Geschichtstheoretiker, Historiker, bis hin zu historisch-materialistischen, uns sagen: Die Leute, die nachkommen, stellen sich auf das Entwicklungsresultat der Generation vor ihnen ein, und somit auf die fertigen Verhältnisse, in die sie hineinwachsen. Aber in gewissem Sinn gibt es da relativ wenig DAZULERNEN, ausser in Gestalt des immer weiter ausdifferenzierten Regelsystems, an dem sich davor dann Generationen abgearbeitet haben, zu dem aber nur im Ausnahmefall mal eine Erfahrungsgeschichte gehört, in der erzählt werden könnte, welche Ereignisse welche Konsequenzen gehabt haben. Sodass man sagen könnte, es ist eine Geschichte des Dazulernens in der Generationenfolge – alternativ wird im Lauf einer Generation umgelernt – es wird auch ausdifferenziert, das kann man schon sagen – aber es gibt keine durchgehende solche Dazu-Lern-Geschichte – und jedenfalls ist wenig darauf angelegt, dieses Durchgehende zu erzählen und es dabei auch zu ERKLÄREN (im Licht einer rationalen Lernregel und der historischen Erfahrung, auf die diese Regel kollektiv angewendet worden wäre: das alles gibt es ja nicht) – stattdessen gibt es natürlich jene Spezialgeschichten („Narrative“?), mit denen etwa nachfolgende Führungsschichten erzogen werden, an denen sie lernen können, die ihnen nahezubringenden Kategorien ausbilden bzw nachvollziehen können – aber das gesamte Weltverhältnis ist bestimmt nicht aufbewahrenswert – es ist eben implizit enthalten im jeweiligen (kollektiven) Regelsystem. Und das hat Folgen…

3.
Eine allgemeine Lernregel existiert da also (noch) nicht. Das, worauf hier gezielt wird – in einem wahrscheinlich viele Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende dauernden Übergang – ist die Ausbildung einer Lernregel, und zwar einer universellen Lernregel; „universell“ heisst: sie ist nicht bedingt. Damit ist schon das erste Stichwort gefallen – ich glaube, dass es schon mal vorgekommen ist im Vortrag 3c – : Die Lernregel kann nur universell sein, wenn dieses andauernde Bedingen (iSv Abhängigmachen von eier Zahl spezieller Fälle, statt allen möglichen) von befolgten Regelsystemen (das unter dem Vorbehalt steht, auch noch weiter durch Bedingungen aufgespalten werden können) endlich aufhört. Das heisst, es muss eine absolute Lernregel gefunden werden, vor allen Dingen eine für den Fall, dass man etwas noch nicht weiss (bzw dass etwas noch nicht vorgekommen oder erforscht ist) – derart dass man tatsächlich etwas VERSUCHT, und versuchen MUSS. Was ja, wie schon gesagt wurde, durchaus im Horizont von Normalplanern liegt; nur leider immer so, dass das Erwarten, die Kalkulation, die erwartete Relation von Versuchs-Aufwand und -Ertrag, das Lohnende des Versuchens (und auch sein Gegenstand: das was überhaupt versucht wird) auf jeden Fall schon einmal vorgegeben ist durch den Rahmen und Horizont der jeweiligen Normalität. Und dieser Rahmen muss somit (zusammen mit dem Übergang in eine un-bedingte Versuchs- und Handlungsregel) AUCH aufgelöst werden – diese Erwartungsklammer, die im Zweifel alles zusammenhält, für die Normalplaner – ihre Normalität. Die ist ja im wesentlichen charakterisiert durch die klammernden, und zwar bedingt klammernden, Rahmen- oder Spezialerwartungen, wann was lohnen könnte (das war die mittlere und obere Ebene der Erwartungen) – diese Klammer und diese Art Rahmenwerte muss aufgelöst werden.

4.
Diese zwei Schritte könnten auch nacheinander stattfinden: Also das ganze ‚Bedingte‘ könnte schon mal wegfallen, und dann immer noch unbedingt-kategorische „submaximale“ Masse für Rahmenerwartungen stehenbleiben. An denen könnte dann gearbeitet werden, also das kategorisch zu Erwartende, womit man rechnen muss, aber auch darf, könnte tatsächlich die erste Form eines Unbedingten sein. Aber natürlich ist es dann immer noch bedingt durch die abzuwartenden Erfahrungen, und wahrscheinlich wird es (weil auch dieses Unbedingte anfällig ist dafür, wieder irgendwelchen Bedingungen zu unterliegen und somit „je nachdem erwartbar“ sein zu dürfen) wieder in den Bann von Bedingungen geraten – weswegen wahrscheinlich die „Auflösung der Klammer“ besser beschrieben wird als das Aufhören oder Abbau dieses Gebildes der bedingten Erwartung, in das die gesamte Reproduktionspraxis eingebettet ist – anders gesagt, das System der Regeln, die man in dieser Praxis befolgt.
Aber das ist noch nicht alles, sonst hätten wir uns ja auch diese Entwicklung sparen können durch die mühsamen Unterscheidungen hindurch: von subjektiv und objektiv und Interessen und Erweitertem Selbst usw. – Ausser Bedingungslosigkeit und Erwartungsfreiheit käme als drittes hinzu: dass jederzeit die Reproduktionspraxis neu zusammengesetzt werden kann einerseits aus Kernselbst- also leiblichen Anforderungen, die man in jede Situation einbringt, in die man sich jeweils neu begibt, und andererseits dem bekannten „Raum an Möglichkeiten“, die man in einer bestimmten Umgebung vorfindet – dem Teil der Umgebung, „mit dem zu tun zu haben man überhaupt rechnet“((jeder (geografische) Raum ist auch ein (praktischer) Raum von Möglichkeiten, ein Raum des Wirkens – …eine Gegend, ein Siedlungsort, an dem man sich niederlässt)). Dieses Zusammenfügen, dieses, genauer gesagt: versuchsweise Zusammenfügen ergäbe dann bestenfalls eine VERSUCHSWEISE Normalität, in der keinerlei Erwartungen oder wenn, dann nur versuchsweise solche, den Rahmen abgeben – abgeleitet aus rahmen-gebenden HYPOTHESEN. Also kein (bedingtes oder kategorisches) Erwartungssystem – weder generell-rahmend, noch bereichs-bezogen! Und dieser klare Begriff von Zusammenfügung: dass jede(r Versuch einer) Reproduktion, jede Reproduktionsweise nur eine solche versuchsweise Zusammenfügung ist, dass sie letztlich eine Ableitung ist aus Regeln des Umgangs mit der eigenen Physis, dem eigenen Körper, einerseits, und den bekannten Regularitäten ausserhalb des Körpers, in der Umgebung, in der man sich überhaupt bewegt, andererseits, ist – dieser klare Begriff geht einher mit dem durchgehenden Bewusstsein, dass diese Zusammensetzung ständig gefährdet ist, und nur als eine prekäre und insofern versuchsweise gehandhabt werden kann – Das wäre also der dritte wesentliche Entwicklungsschritt, der zurückzulegen wäre.
Und natürlich bleibt die Frage dann: Unter welcher Art Hypothese geschieht das alles?
Darauf werde ich jetzt gleich zu sprechen kommen.

5.
Das Verwirrende an dieser ganzen drei-schrittigen Entwicklung ist, dass sie ja nicht mit diesen hoch-abstrakten Kategorien, die kaum UNS im Rückblick zur Verfügung stehen, wie „Wegfall aller bedingten und auch unbedingten Erwartungen“, arbeitet. Sondern stattdessen erst einmal nur implizit immer weiter ausladende Variations-Breiten von Bedingungen auslotet, in dem, was einem begegnet und begegnen könnte. Um klarzumachen, mit was für Stoff man es da zu tun hat, muss man sich nur mal daran erinnern, was Menschen in vergangenen Zeiten, die noch nicht so lang vorbei sind, also vormodernen Zeiten, für möglich gehalten haben – als etwas, das eine Chance oder ein Risiko für sie darstellt, oder ein Anzeichen für mögliche bestehende Dispositionen in der Welt, und dazu gehört beispielsweise der gesamte Bestand an Mythen, aus denen sie sich irgendetwas ableiten, mit denen sie auch in ihren Halluzinationen, Träumen, denen vor allen Dingen, in ihren Eingebungen, Visionen usw konfrontiert sind, und an und mit denen sie anschliessend weiterarbeiten, sodass diese Quellen auch den Stoff liefern für weitere, oder sogar gänzlich neue (Anschluss)Mythen. Erzählungen können auch direkt durch einen Traum eingeflüstert werden – oder es handelt sich um verballhornte Real-Geschichte, die ihnen erzählt wurde – Erzählung von dem, was an einem Ort (angeblich) schon möglich war, und was ab dann geglaubt wurde usw. Für sie ist das auf jeden Fall ein ganz authentischer Stoff, und zwar einer mit viel mehr Inhalt als die robusten historischen Traditionen, die ihnen vielleicht in mündlicher Tradierung auch mitgeteilt wurden, mit denen sie auch gearbeitet haben, und aus denen sie auch Schlüsse ziehen konnten, und das so, dass eben viele aktuelle Erlebnisse Fortschreibungen sind von etwas, von dem sie als einem (womöglich „idealen“) Vorbild sie schon mal gehört hatten, und dem sie in der aktuellen Situation nacheifern.
Wenn wir diese Art von „Erfahrung“ als Quelle für die Bedingungs-Klassifikation praktischer, aber auch für Budget- und Rahmenerwartungs-Regeln zulassen, dann ist da natürlich der Blick enorm geweitet. Da ist erst einmal alles möglich; und im Mass, wie nun Leute tatsächlich so etwas ernstnehmen und davon wirklich etwas abhängig machen, angefangen bei den für sie existenziell entscheidenden Alltagspraktiken, Jagd, Krieg, bei denen ein Scheitern die weitestreichenden Folgen hätte, aber zugleich durchaus nicht unwahrscheinlich ist: Da bringen sie ihre „irregulären“ Erfolge oder Misserfolge mit anderm Irregulären in Verbindung, und machen ihr Handeln von Anzeichen oder Bedingungen eines Erfolgs abhängig (freilich auf einem höheren Kontrollniveau, als wenn sie sich völliger Zufälligkeit und Unberechenbarkeit ausgeliefert sähen). Aber indem sie sich abhängig machen von An- und Vorzeichen und sie ernstnehmen (im Sinne einer abergläubischen Deutung solcher An- und Vorzeichen) – womöglich bis hin dazu, dass sie unterstellte Kausalbeziehungen benutzen, um Erfolgs-Bedingungen für sich, oder Misserfolgs-Bedingungen für Feinde herzustellen, was dann in Richtung Magie geht – in dem Mass also, wie sie das ernstnehmen, werden sie natürlich auch anfällig für Enttäuschungen. Die Enttäuschungen können zb die Form annehmen, die man von „alternativen“ Heilmethoden her kennt, dass Ratschläge, Regeln, Rezepte, die sich um solche Bedingungen drehen, abergläubische Anzeichen, Talismane, magische Rezepte, es geradezu darauf anlegen, so komplex zu sein, dass man sie nie zuverlässig ausführen kann – sodass es immer eine Erklärung gibt, warum es nicht funktioniert hat – weil man immer etwas falsch gemacht hat (da kommt jetzt das „Was hab ich falsch gemacht?“ der Budget-Ebene herein: Wie lange noch, bis man den Versuch, die Abwandlungen, die versuchte Rezeptbefolgung, das immer wieder Neu-Interpretieren von Anweisungen und Zeichen, aufgibt?) Das alles ist erst einmal bodenlos – aber „Ernstnehmen“ heisst tatsächlich, vom Zutreffen solcher Versprechen, solchen Erwarten-Dürfens oder -Müssens (das ist schon schwieriger) etwas abhängig zu machen. Das mit dem Erwarten-Müssen ist von der Art, dass man dann Vorkehrungen trifft zur Abwehr eines Übels, die können recht umfangreich werden, und das zu widerlegen, ist natürlich ein bisschen schwieriger, aber nicht ganz unmöglich – etwa dann, wenn man feststellt: Man hatte vorübergehend die Mittel zur Abwehr nicht, es drohte das Schlimmste, und es passierte – nichts. Auch das kommt vor…
Zusatz: Die Anspielung auf die Budget-Ebene sollte weiter ausgeführt werden. Schon weiter oben tauchten die Formulierungen auf: es WIRKLICH ernstnehmen, es sind existenziell entscheidende Alltagspraktiken usw. Das „Ernstnehmen“ kann (wie in der Anspielung auf die Budget-Ebene geschehen) nun geradezu definiert werden als Hartnäckigkeit, mit der man versucht, ein unerwartet aufgetretenes Problem (das klassifiziert wird als eines einer bestimmten Sorte) mit einer solchen Alltagspraktik (Rezeptregel), einer bewährten zumal, zu lösen, und für die Erklärung, woran das Versagen, Ausbleiben, der Verlauf anders als erwartet gelegen haben könnte, erst noch naheliegende, „bekannte“, dann aber immer „exotischere“ Möglichkeiten, eben solchen vom abergläubisch-magischen Typ, erwägt – und daraus praktische Experimente ableitet (deren Scheitern oder Teil-Wirksamkeit zu neuen, speziell auf die betreffende Technik oder Prognostik gerichtete ad-hoc-Interpretationen bzw -Klassifikationen einlädt). Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendeine dieser Nothilfe-Praktiken „erfolgreich“ wirkt, ist um so grösser, als alles Fehlschlagende, das im Rahmen des Budgets probiert wurde, als quasi widerlegte Hypothese behandelt wird (insofern durchaus rational) – und (abgesehen vom Aufwand, der freilich langsam kumuliert, bis uU die Verzweiflungsgrenze erreicht wird und man die Problemlöse-Versuche aufgibt) „nicht zählt“. Im Kontrast dazu das ansatzweise hilfreich Erscheinende – wenn die Not am grössten ist, erscheint es nicht nur als der Beginn der Rettung, sondern eben auch als vielversprechende Spur in Richtung noch besserer, noch wirksamerer Mittel dieser Art: fertig ist der confirmation bias, und die Bereitschaft, mit verdoppelter Anstrengung sich auf die Weiterentwicklung dieser neuen (magischen) „Technologie“ zu stürzen. Das ist durchaus nicht so verschieden vom Vorgehen „der Wissenschaft“ (soweit sie sich den System-Bereichen der Wirklichkeit zuwendet, vgl. 1,21ff). Es hängt also von Budget- und Rahmenwerten ab, zugleich von der Verfügbarkeit „robuster“ Wirk-Hypothesen (die zunächst einmal mit handfestem Wissen um tatsächliche Material-Eigenschaften oder „objektive“ Regularitäten der Umgebung erschlossen werden und insofern näherliegen), ob das quasi weiter „aussen“ gelegene kognitive Feld (der lunatic fringe, gewissermassen) der „magisch-abergläubischen“ Klassifikations- und Hypothesenbildungs-Optionen betreten und „bis zur Verzweiflungsgrenze“ ausgeschöpft wird. Und natürlich hängt wiederum von „dramatischen“ Erfolgen in Bewährungssituationen (das können gern auch singuläre solche gewesen sein! wenn der Bedarf nur gross genug war – denn an dem wird die „Kraft“ eines Hilfsmittels eben immer auch gemessen, in der OPP Kategorienwelt: ALLES andre hatte versagt – NUR das konnte noch helfen usw) ab, ob magische Praktiken es schaffen, in den Routine-Bewältigungs-Apparat an Praktiken zur Problemlösung aufgenommen und als solche womöglich „forschend, probierend“ weiter-entwickelt zu werden. Das freilich immer nur, solang Budget und Rahmenwerte das hergeben. Ansonsten… wird am Ende aufgegeben, und die Misserfolgs-Erfahrung (die uU eben AUCH beeindruckend war!) wird in Neu-Bewertungen von Chancen und Risiken, zur Not der gesamten Existenz, übersetzt. (Zur epistemischen Kategorie des Probierens, und der Subsumtion der „Erforschung“ magisch-abergläubischer OPP-Problemlöse-Versuchspraktiken unter diese epistemische Kategorie, vgl. die einschlägigen Abschnitte in „Normalität, oder die Begründung durchs hinreichend Bewährte“).

6.
All diese Möglichkeiten des Scheiterns, des Enttäuschtwerdens, stellen eine Art von Selektions-Mechanismus dar, und im Mass, wie Leute magische und abergläubische Praktiken tatsächlich ernstnehmen, weil sie von deren Richtigkeit und Wirksamkeit etwas abhängig machen (vgl. Zusatz zu §5), wächst natürlich ihre Enttäuschbarkeit. Das heisst, je mehr sie sich mit diesem Bereich beschäftigen, vielleicht sogar als Spezialisten, Schmanen, Hexer, Zauberer – in dem Mass werden sie wahrscheinlich einige Erfolge feiern, ansonsten auch sehr viele Misserfolge erleben. Und da ist natürlich immer die Frage, wie weit reicht die Frustration, und wie weit wird sie auch tradiert – denn wenn jeder nochmal von vorne anfängt, gibt es keine anwachsende Erfahrung, aus der man lernen könnte. Aber wenn dieser normalplanerische Ansatz ausgebaut wird zu einem ernsthaft und über längere Zeit verfolgten Forschungsprogramm zur Beantwortung der Frage, was denn nun eigentlich zutrifft – dann sieht das schon anders aus. Also wenn das nicht hier und da einmal von „Zauber-Nutzern“ angewandt wird, wo sie aus ihrer Normalität heraustreten und den ein oder andern Zauber oder eine Vorhersage brauchen – sondern, wenn das tatsächlich die wirklich Zuständigen und Praktiker planmässig untersuchen, die auch regulär von Hilfsbedürftigen darum angegangen werden – dann, kann man sagen, ist da schon eine ganz andere Form von kognitiver Ernsthaftigkeit (denk an Budget und Rahmenwerte der Spezialisten!) im Spiel.
Und da setzt also nun ein, was ich eingangs Selektions-Mechanismus nannte – eine nicht ganz bewusste Evolution der Art, dass die weniger enttäuschungs-anfälligen Erwartungen und Hypothesen, mit denen abergläubische und magische Praktiken erklärt und Erfahrungen gedeutet werden, diejenigen sind, die zunächst einmal übrig bleiben. Im Mass, wie die Praktik nicht jedesmal neu beginnt, sondern tatsächlich auch ihre Erfolgsrate tradiert wird, würde da natürlich im Laufe der Zeit ein immer grösseres Auseinanderweichen der Erwartungswerte zu bemerken sein. Denn: ein Extrem-Gutes, ein Best-Mögliches, das passieren könnte, ist fast immer zugleich ein Fernes, Unverfügbares – man kann darauf eingestellt bleiben, dass es eintrifft, aber nicht bald. So etwas ist allen klar, die schon enttäuscht worden sind: Dass man etwas nicht ausschliessen kann, und bis auf weiteres, in diesem stark abgeschwächten Sinn, weiter erwarten kann – von der Art ist vieles, das bleibt, nachdem man schon viele Enttäuschungen erlebt hat. Dh es geht zusammen und muss zusammengehen mit der sehr weit reichenden Erwartung, dass zumindest die zeitnahe Erreichbarkeit eher infragegestellt ist.
((Es sei denn, man hätte es zu tun mit so einer Art Naherwartung, wie die Zeugen Jehovas sie zeitweise praktiziert haben, also es wird etwa auf ein Datum gehofft – und, gut, das war jetzt nicht richtig, aber dann suchen wir nach dem Fehler und bestimmen das nächste Datum usw. Wenn man das fünf- oder zehnmal gemacht hat, ändert das natürlich auch die Art der Erwartung – dann schaut man nochmal nach im Mythos, und findet vielleicht eine Neudeutung,wie das eigentlich beschaffen ist mit diesem Datum, und hat dann den Erwartungswert zwar immer noch bewahrt, aber die Konkretisierung in Gestalt eines Datums, Zeitabstands verschwindet wieder. Anm.: Das könnte auch als Paradigma für das Bewältigen von „Glaubenskrisen“ dienen…))
Natürlich muss das lange Warten sich am Ende auszahlen – es nützt nichts bzw lohnt nicht, eine relativ bescheidene Wunscherfüllung immer weiter hinauszuschieben, und davon etwas abhängig zu machen, statt sich mit der Nichterfüllung der Aussicht abzufinden. Weiträumigkeit, unbestimmte und im Zweifel lange Fristen bis zur Erfüllung der (mutmasslichen) Erwartung erfordern also auch entsprechende Steigerung in der Grössenordnung des Lohnens – nur Best-Vorstellbares übersteht seine (hypothetische) zeitliche Entrückung unbeschadet.
Dh also: Solche best-denkbaren Fälle (die zu diesem Zeitpunkt meist noch nicht „philosophisch“ konstruiert, ge- und be-dacht sind, sondern fürs erste weiter geschöpft werden aus den Erzählungen, die sich gespeist haben aus den vielen genannten, mehr oder weniger trüben Quellen sind zugleich diejenigen, die, weil sie weiträumig, zeitlich unbegrenzt sind, das Rennen machen: Die ihnen zugrundeliegenden Annahmen sind nicht widerlegbar. Nicht in absehbaren Fristen, zumindest.

7.
Es wird sich – allerdings erst viel später, und nach schier endlosen Reflexionsaufwänden – herausstellen, dass genau das auch ihr entscheidender Mangel ist, und welche Art Hypothesen dafür anfällig sind. Hier wollte ich nur festhalten: Der Selektionsprozess findet nach dieser Seite hin SO statt.
Nach der andern Seite hin, also der Seite des Erwartungswerts, der die erwartbaren Risiken betrifft, sieht die Enttäuschung, Enttäuschbarkeit (der Erwartung nämlich, dass man gegen bestimmte Risiken gesichert ist) anders aus – da sucht man ja nur nach der Bedingung für die Sicherung, und nach der Bedingung für das Eintreffen eines schlimmen Falls, den man u.a. dadurch berücksichtigen möchte, dass man ihn umgeht (ausser, man will ihn, als Kriegsmittel, gegen Feinde, aktiv herbeiführen, wenn man das kann; die wirklich grossen Gefahren drohen freilich von Naturkatastrophen, über deren Stattfinden oder nicht man keine Kontrolle hat). – .Also es geht hier normalerweise nicht darum, dass man die Realisierung des Risikos erstrebt, wie im best-denkbaren Fall – wobei auch das, solchen Chimären nachjagen, in der Normalplanung tunlichst vermieden werden soll (es doch zu tun, stellt seinereits ein (Versäumnis)Risiko dar…) – sondern hier geht es normalerweise wirklich darum, dass man Risiken vermeidet, und die Enttäuschung bzw Enttäuschbarkeit sieht hier so aus, dass es eigentlich nichts gibt, was es nicht geben kann, und dass einem wirklich alles jederzeit zustossen kann, einschliesslich (das ist dann die Verbindung zwischen diesen beiden Rahmen-Erwartungswerten) der Absturz aus einer glücklichen Ausgangssituation. Das heisst also, diese Art der Enttäuschung, die Schutzbedingungen, oder die Vorhersehbarkeits-Bedingungen, die ja auch eine Kontrollfunktion haben, lösen sich an diesem Ende der Erwartungsbildung auf. Und insgesamt rückt also das System der Erwartungswerte, der höchsten, also der Erwartungen des Best-Denkbaren, einerseits, und der Erwartungen der schlimmsten Fälle andererseits, immer weiter auseinander. Der End- und Grenzzustand nach der „Risiko“-Seite wäre dann quasi ein Maximum an Blanko-Pessimismus: Jederzeit ist mit allem zu rechnen – aber nicht sicher. Letzteres ist gewissermassen die Trostkomponente darin – es ist nicht sicher, dass das Schlimmste tatsächlich eintrifft. Nach der andern Seite hin ist es dieselbe Formel: Das Bestdenkbare könnte auch NICHT eintreffen, was aber im Moment kein allzugrosser Schade ist, weil man bis auf weiteres so tun kann als ob. Und wenn man sich in diese Position vorgearbeitet hat, mit diesen maximal weit reichenden Erwartungsvorstellungen hinsichtlich des Besten und des Schlimmsten – dann ist man eigentlich fast schon in einem RELigiösen Weltverhältnis angekommen.

8.
Man muss sich klarmachen, dass diese hypothetische, im Grund nicht mehr auf Erwartungen beruhende bzw zu solchen berechtigende Einstellung sich an beiden Enden der normalplanerischen Erwartungs-Werte-Skala bildet – in beiden Fällen ist die entscheidende Formel: Es ist noch nicht bewiesen, dass es (nicht) so kommt. Ich stelle mich auf ein Bestdenkbares, ein sehr weit reichendes ein, und tue so, als wäre das möglich – es ist noch nicht bewiesen , dass es nicht so ist – ich mache das so lange, bis es bewiesen ist – so wäre also gewissermassen alles, was ich unter dieser Hypothese tue, ein Experiment – es ist zugleich experimentell in der andern Richtung – unter der Annahme, dass mir alles zustossen kann, aber noch nicht bewiesen ist, dass ich das nicht bewältigen kann, und das kann ich „experimentell“ doch, bis der Beweis geliefert wird, versuchen. Deswegen könnte man sagen, das Wesen dieses Weltverhältnisses ist diese experimentelle Grundeinstellung: Das Leben ist ein Experiment – worauf es vor allem ankommt, ist die Hypothese, unter der man es einrichtet. Wenn man das mit dem Draufgängertum von Normalplanern, aber auch – als Gegenstück – ihrer ebenso gut möglichen Verzagtheit vergleicht, dann ist das ein unglaublicher Zugewinn an Rationalität und an Möglichkeiten, obwohl doch das Ganze so eingeschränkt erscheint – man ist eingeschränkt auf nur noch eine ganz vorsichtige Form der Reproduktion – es kann ja immerzu alles passieren – aber es ist eben auch dieses ganz vorsichtige Ausweiten damit verbunden – denn es ist ja noch nicht sicher, dass das Schlimme passiert – deswegen kann ich auch ganz vorsichtig meine Ausgangssituation verbessern. Daran können meine Kinder weiterarbeiten – und so können wir also ganz vorsichtig, immer auf der sicheren Seite – immer mit dem Schlimmsten rechnend, aber nicht als dem endgültigen – weiterarbeiten am Ausbau unserer Reproduktion.
Das also ist der materielle Gehalt RELigiöser Lebensformen; als solcher wurde er bisher – leider auch von eher materialistisch orientierten Analytikern – komplett übersehen. Man schaut ständig auf die mehr oder weniger illusionären Formen dieser Erwartungshaltung – dieser starr auf ein – freilich nur hypothetisches – Optimum ausgerichteten Erwartungshaltung – und die („Glaubens“-)Inhalte, die dort eine Rolle spielen, und die natürlich, wenn man so will, Überbleibsel sind der normalplanerischen farbigen Mythologien, mit denen die ihre Bedingungen für die Erwartung von dem oder jenem ausgestaltet hatten. Aber der ernüchtert-rationale Boden, auf dem man da steht, wird gern übersehen. Das hängt natürlich damit zusammen, dass diese historisch sehr reife Form eines Weltverhältnisses kaum je einmal von einzelnen Individuen einfach für sich erschlossen wird (die sich des Weges, den sie da zurückgelegt haben, bewusst sind – was sie aber nicht weitergeben können, weshalb dieser Weg dann schnell wieder in Vergessenheit gerät), sondern sie ist meist das Resultat der Arbeit vieler Generationen daran, die die von ihnen erreichten Zwischenstadien, und die Einstellungen, die sie zwischenzeitlich hatten, meist erst recht nicht für künftige Generationen festhalten. Genau darum ist diese reife Form dann auch in Gefahr, wieder verlorenzugehen, und zurückzusinken in eine unangemessene, weil normalplanerische Aneignung der Praxis, die sie darstellt. Aber darüber möchte ich gerne später mehr sagen.

9.
Jetzt wäre noch eine Überlegung anzustellen hinsichtlich des dritten Schritts. Es ist keine Selbstverständlichkeit, selbst wenn diese Experimentalität der Lebensführung (als alles bestimmende Grundlage des Weltverhältnisses) bereits eingetreten ist, dass die Kategorien, die sich andeutungsweise in der politischen Entwicklung der Normalplaner aufwärts gezeigt haben: Kernselbst, das Restunbekannte, also das Sich-Stellen zum Gewussten und Unwissen bezüglich der Umgebung – ihrerseits schon zu bewussten, Praxis-bestimmenden Kategorien geworden sind (soweit diese beiden Kategorien praxis-bestimmend werden können: indem sie ein – prekäres – Erweitertes Selbst, in einer gegbenen Umgebung, mit gegebnem Hypothesen-Wissen über Kernselbst und objektive Welt hier und generell, zu konstruieren gestatten). Sondern jetzt beginnt eine andere Art von Entwicklung auf dieser Stufe, und das ist, wenn man so will, die Geschichte auch des experimentellen Lebens und der Lebensform, dass man nämlich die Variabilität von Lebenformen durchspielt. Man lernt sie vielleicht auch bei andern kennen, aber bei sich selber eben auch, in der eigenen Geschichte – und in dieser Erfahrungs-Kette von Abwandlungen erst kristallisieren sich tatsächlich die Momente „Kernselbst, und seine Bestimmungen“, einerseits, und „die objektive Welt, zu der man sich (an der Grenze des Gewussten zum Restunbekannten) verhält“, andererseits, heraus. Freilich in einer ganz andern Weise als bei den Normalplanern, weil die Experimente dieser RELigiös-experimentellen Einrichter und Verbesserer ihrer immer nur vorläufigen Existenz ja tatsächlich flexibel sind: Sie können tatsächlich ihre Normalität jederzeit bei Bedarf neu zusammensetzen, die Reichweite ihrer möglichen eigenen Neueinrichtung ist viel grösser als bei irgendeinem Normalplaner. Das macht natürlich, dass sie in ganz anderem Umfang als Normalplaner, unbefangen, über Neuzusammensetzungen ihres Lebens, neue Lebensmöglichkeiten, ganz andere, auch in ganz anderen Umgebungen, nachdenken können, und natürlich erschliesst sich in einer Kette von solchen Neuanfängen, wenn sie denn tradiert wird, auch der Kategorienapparat, mit dem man ein Kernselbst beschreibt, also die leiblichen Mindestanforderungen an ein gutes Leben (immer unter experimentellen Voraussetzungen), also eines Lebens, in dem man sich maximal vorsichtig, aber doch minimal zuversichtlich verhält, und zugleich die objektiven und wissbaren Regularitäten beachtet und nutzt, mit denen man in gleich welchen Umgebungen konfrontiert sein kann. Deswegen auch ist, was später Naturwissenschaft heisst, solchen Geistern nicht fremd, und es ist durchaus möglich, im Rahmen einer solchen RELigiös-experimentellen Kultur sich mit der Umgebung in einer durchaus forschenden Weise auseinanderzusetzen. Durch die Vorsicht, mit der man sich da bewegt, gibt es immer wieder auch Reserven aller Art – die Reproduktion ist nicht so fordernd, nicht so ausgereizt und auf Kante genäht wie bei Normalplanern, wo einfach meist garkeine Zeit bleibt, um frei und spielerisch zu denken und zu forschen (es gibt zu viel, das dabei versäumt werden könnte). Stattdessen gehört gerade das auch zur experimentellen Lebensform dazu, dass man sich umtun kann, reisen, erkunden, untersuchen, versuchen und somit auch im engeren Sinn experimentiert – einfach weil man freie Zeit und Mittel dafür hat. ((Anm. Damit das jetzt nicht zu idyllisch klingt: Dieser Wegfall innerer Hemmungen oder besser, Abhaltungen, Ablenkungen, von Musse-Optionen, aus kulturellen Gründen bzw aufgrund des Weltverhältnisses, ist natürlich bloss eine notwendige Voraussetzung für tatsächliche Freistellung und Musse: Erheblich mehr experimentell Eingestellte WÜRDEN ihre freie Zeit so nutzen, haben aber – ihrer ganzen Zurückgenommenheit zum Trotz – keine…))

10.
Wenn man nun nach der andern Seite schaut, also nach der Gestalt der RELigiösen Glaubensvorstellungen, dieser das Experiment (an)leitenden Hypothesen – dann muss man sich fragen: Welchen Stellenwert sie (und ihre besondere Formulierung) eigentlich im Leben dieser RELigiös-experimentell Lebenden haben? Ganz gleichgültig kann ihnen dieses Element ihres Weltverhältnisses nicht sein – schliesslich hängt davon, dass sie da überhaupt etwas Haltbares haben, bis auf weiteres die überaus wertvolle Experimentalität ihrer Lebenseinrichtung ab. Das heisst, von dem Inhalt ihres Ideals, des Optimal-Möglichen, mit dem sie rechnen, hängt natürlich die Möglichkeit ab, sich hier unten minimal zuversichtlich zu verhalten. Hingegen wenn das wegfällt, dann ist allem Anschein nach auch für sie „alles aus“. Darum hat ihr Glaube, diese Hypothese, die er ist, eine so grosse Bedeutung in ihrem Leben, und diese Bedeutung ergibt sich auch noch aus einem andern, einem KOGNITIVEN („epistemischen“) Grund. Dafür müssen wir jetzt noch einmal kurz etwas präziser sagen, welche Art Inhalt die Enttäuschungs-Selektion am wahrscheilichsten übersteht. In den Ur-Glaubensinhalten wohl aller bekannten grossen und Kultur(raum)-bildenden Religionen erinnert bekanntlich einiges an die unreiferen historischen Vorstufen, von denen sie herkommen: einen Ahnenglauben, schamanistische Praktiken, eine Gottesfigur, in der irgendwas sehr archaisches, Feuer, Sonne usw zusammengeflossen ist usw – Derartiges steht da ja oft am Anfang, und bildet Vorstufen, wo noch sehr viel von Bedingungen, Aberglaube, und Naherwartungs- wenn nicht gar magischer Wirk-Zuversicht zu sehen ist, und noch nichts von dem fatalistischen „Seine Sache auf nichts stellen“, dem Credo-quia-absurdum – das man bis auf weiteres annehmen kann, aber auch muss, weil es das Best-Denkbare ist (wenn es sich realisieren würde; und ansonsten momentan keinen Unterschied macht), unter dem, was noch nicht widerlegt ist – und zugleich das als in und hinter allem Wirkende einleuchtendste. Aber so reden ungefähr reif-REL-experimentell Denkende. Übrigens gibts die auch unter Zeugen Jehovas (solche hab ich selbst schon getroffen…) Auch Amish – alle genuin RELigiös Denkende reden so über ihren Glauben; aber das sind natürlich bereits historisch extrem fortgeschrittene Zustände, die darf man so 500 in einer früh-eisenzeitlichen, oder gar 1000 vuZ und davor, in einer bronzezeitlichen Gesellschaft nicht erwarten. Jetzt also eine Aussage oder Prognose (im nachhinein) über die Wahrscheinlichkeit, welche Hypothesen, welche Mythologien den Enttäuschungsprozess am ehesten überleben: Ich werde darüber sicher noch sehr viel mehr sagen müssen. Aber ich will doch kurz andeuten, was in der Formel, die ich für mich selber in meiner eigenen theoretischen Entwicklung benutzt habe, hinweist auf die Art dieser Inhalte. Und zwar habe ich gesagt: RELigiöses Glauben stellt dar eine Optimalhypothese – ein anderes Wort für hypothetisches Ideal, und zwar ein Ideal, das einen sehr speziellen Inhalt hat: Ein spezifisch RELigiöses Ideal unterstellt in und hinter der Welt mentale psychische Qualitäten – solche Eigenschaften, Zustände, Vorgänge, Dispositionen, die man sinnvoll nur „Personen“ zuschreiben kann – personale Qualitäten, könnte man auch sagen; die aber einer unbestimmten Steigerung für fähig erklärt werden. Da kann man sich jetzt mal an die christlichen oder generell monotheistischen Versionen erinnern, an sowas wie personale ALL-Dispositionen: ALL-wissen, -macht, -güte, -verstehen, -weisheit usw – das sind also unbestimmte Optimalausprägungen von persönlichen Eigenschaften. Wenn man sich mit diesen persönlichen Eigenschaften systematisch beschäftigt, dann findet man (das ist vielleicht etwas, das wirklich noch genauer zu besprechen ist in nachfolgenden Vorträgen) eine Abstufung oder Stufenreihe der zuschreibbaren Eigenschaften oder Einstellungen einer Einzel-Person, aufgrund deren sie ihr Handeln begründet (bzw die ihr Handeln, zumindest die von ihr bekundeten (Versuchs)Absichten, als durch diese Gründe begründet verstehbar erscheinen lassen.). Mit anderen Worten: Die Begründungsstruktur des Handelns liefert das Inventar an RELigiösen Kategorien, die einer unbestimmten Steigerung für fähig erklärt werden. Und davon wird jetzt also behauptet, – das ist vorläufig meine Arbeitshypothese – : Das ist die Art Hypothesen über die Welt (zunächst auch die Art Erwartungen, bevor das ganze endgültig ins Hypothetische abkippt), die den Enttäuschungsprozess am ehesten überleben.

11.
Aber warum? Warum tun sie das, warum sind sie dazu imstand? Die allgemeine Form einer solchen Erklärung dessen, was in der Welt geschieht, oder wie die Welt überhaupt beschaffen ist, mit etwas, womit man sonst Handeln erklärt – diese Art der Erklärung lässt etwas zu, was man so im allgemeinen bei Naturvorgängen und natürlichen Zusammenhängen nicht vorfindet, und das ist eine INTERPRETATION. Das heisst: Irgendwie steckt hinter allem, was geschieht, etwas von der Art einer Absicht, oder dessen, was Absichten begründet, Pläne begründet, und das erklärt nebenbei auch, warum es einen Sinn hat. Nur: der Sinn erschliesst sich nicht unmittelbar. Und jetzt kann ich mit dieser unterstellten Sinnhaftigkeit des Geschehens in und hinter der Welt anfangen, Deutungen (Interpretationen) zu machen: Warum ist es sinnvoll – im Sinne welcher (guten) Absichten oder Zwecke ist das, was geschieht, sinnvoll, zweckmässig, GUT? – also das Geschehene als Quasi-Handlung begründend (oder erklärend)? Die Kategorie Sinn kann man zusätzlich so heranziehen, dass man sagt: Die Sinnhaftigkeit der Welt erklärt auch, WARUM sie so ist, wie sie ist, das heisst, die Tatsache, dass die Welt nach denselben Prinzipien funktioniert wie ein Handeln, oder seine Begründungen, wie jemand Pläne begründet – erklärt auch, wie die Welt ist und warum sie so ist. Ich will kurz sagen, was das für Vorstellungen sind – zum Beispiel: Die Welt hat einen Zweck, oder: die Welt gestaltet sich nach den Absichten von allmächtigen Einzelfiguren, das wäre jetzt so etwas wie ein Götter-Pantheon, das aber abgeschlossen und vollständig ist, die mit Weltvorgängen, in die wir auch eingreifen, interagieren (u.a. auf UNSER Tun sinnvoll reagieren…) – und das erklärt, was geschieht. Nicht in allen Einzelheiten – das können wir nicht durchschauen, das ist immer der Punkt – aber doch im Prinzip. Und dieses IM PRINZIP erklärt eine weitere typisch RELigiöse Bestätigungsfigur, nämlich: Man konzentriert sich extrem stark auf die Fälle, in denen man schon mal was hat erklären können, so auf diese Weise: Schau wie sinnvoll DAS ist, und wie schlagend es unsere Glaubensüberzeugung bestätigt – und das lässt sich verallgemeinern, nur bei dem andern wissen wir es noch nicht, wie es und warum es Sinn macht, das ist uns noch verschlossen, aber das wird sich uns schon auch noch erschliessen (denn: auch das ist ein wichtiger Bestandteil dieser Optimalhypothese: Es ist ja noch nicht bewiesen, dass wir es nicht verstehen können oder werden.) Also können wir immerfort weiter deuten; und dieses Fortbilden unseres Begriffs dessen, was Sinn machen würde, und was Handeln erklärt (das Handeln etwa einer solchen allmächtigen Figur, oder der Realisierung eines Weltzwecks, der sich in der Welt geltend macht – oder einer Art Stimmungsschwankungen, die in der Welt sich bemerkt macht und eine jeweilige Gefärbtheit des Geschehens erklären würde, das aber immer sinnvoll ist und bleibt (durch alle Wechselfälle hindurch), oder Botschaften sind in der Welt, die uns erklären, wie etwas zu gebrauchen wäre – die Welt ist gewissermassen voller Gebrauchsanweisungen, und „Signaturen“ – das ist so eine Paracelsus-Religion) – all diese Grundkategorien lassen es zu, dass man an ganz vielen Stellen etwas erklären kann, so wie es ist, also eine Welterklärung, durchaus im Sinn einer Kausalerklärung, anbringen kann, dadurch, dass man es unter eine solche ideal gedachte Sinn- oder Handlungs-Erklärungs-Kategorie subsumiert.

12.
Und diese Sinnkategorie, also die Art und Weise, wie man (Ideal)Handeln erklären kann, reichert sich nun an mit dem spätestens zwischenzeitlich beim Immer-wieder-Neugestalten der eigenen experimentellen Existenz erworbenen und mittlerweile perfekt ausgebildeten Kategorienapparat. Und was ist das für ein Apparat? Wenn man auf das Entscheidungsschema (Ende 3d) schaut, wird man feststellen, dass die ganze Abteilung links vom Abwärts-Pfeil betroffen ist: Begriffe, Hypothesen (bzgl dessen was möglich ist), Strategie-Entwürfe, und dann die Auswahl der Strategieentwürfe für eine gegebne Umgeung, das wäre dann schon der Plan, der sich noch in seiner Ausführung orientieren muss an Nebenumständen, Zeitumständen, und dementsprechend abgewandelt werden muss – Prioritäten müssen vorübergehend gesetzt werden bei seiner Erreichung, und bei der Einzelausführung muss ich noch dies und jenes (in Feinanpassung an die gegebne Arbeits-Situation) zusätzlich können und zustandebringen, wobei ich aber keinen Zweifel habe, dass es gelingen wird, ich muss es nur erkunden, muss es wissen, was wo ist, muss was suchen usw. Diese insgesamt 5 Stufen machen das Gefüge der Begründung einer konkreten Einzelhandlung (die kann auch kollektiv sein) und eines konkreten kollektiven Plans aus, unter experimentellen Bedingungen; Begründung eines VERSUCHs, so könnte man sagen – eines Einzelversuchs. Und aus diesem Material, das sich aus der Erfahrung der stetigen Neu-Zusammensetzung der eigenen Reproduktion aus Kernselbst-Hypothesen und -Kenntnissen vom Funktionieren des eigenen Kernselbst, den Bedingungen seines Normalfunktionierens, den förderlichen wie den hindernden und krankmachenden, einerseits, und den Bedingungen der Regularität von Bestandetilen der Realität, mit denen ich arbeite, in der Umgebung in der ich lebe, andererseits, zusammensetzt – dieses ständige oder immer wieder stattfindende Neukomponieren meiner Reproduktion liefert mir das Anschauungsmaterial, aus dem ich die mir and andern zuschreibbaren Arten von Gründen erschliesse, mit denen ich – allerdings eben in unbestimmter Steigerung – mir meine Welt erkläre mit der Tatsache, dass sie mutmasslich bis zum Beweis des Gegenteils sinnvoll ist (also ganz entfernt etwas so Zusammengesetztes wie meine Reproduktion, wenn auch in idealer Form), und dass etwas Sinnvolles in und hinter ihr wirkt. Von der Art also sollen die Inhalte von Erwartungen sein, die schliesslich in hypothetischen Modus übergehen, die gegen alle Enttäuschungen immun sind und deswegen übrig bleiben aus dem historischen Zerrüttungsprozess des Aberglaubens und des magischen Denkens…
((wo nämlich nicht solche sinnhaften Beziehungen unterstellt werden, sondern empirische, also: was war vorher? was könnte es sein, das einen Unterschied macht – welche Klasse von Ereignissen könnte mit jener Klasse von Ereignissen assoziiert sein?, das ist also grob empirisch bzw. statistisch ermittelt, es ist das Material des Aberglaubens und magischer Wirkversuche – und das übersteht eben im allgemeinen historisch diesen Selektionsprozess nicht.))
…Der grösste Vorteil dieser RELigiösen Glaubensüberzeugungen, nämlich dass sie gegen solche Enttäuschungen und Widerlegungen immun sind, ist aber zugleich verrückterweise ihr grösster Nachteil. Wie sich nämlich noch zeigen lässt, machen sie in der Welt keinen Unterschied. Das herauszufinden ist aber bereits Gegenstand der – wenn man so will – „Kritik“ der RELigion und des RELigiösen Denkens, und des Begriffs von Person, der dort unbestimmt bleibt, und deswegen nur überhaupt diese Steigerungen zulässt. Und davon wird denke ich ein späterer Vortrag handeln. Für heute soll es damit erstmal genug sein.