Vortrag 3f: Aporien des moralischen Legitimierens und Vermittelns (4.5.OPP Stp.)
Es soll jetzt also um Moral gehen – zunächst habe ich aber noch ein paar Nachträge bzw. Korrekturen zu dem bisherigen…
1.
Der erste Anlass zu einer Präzisierung bzw Korrektur ergibt sich aus der Tatsache, dass die moralisch Denkenden bereits deshalb nichtmehr ins Geschehen involviert sind, und deswegen auch keine Realisten, sondern Idealisten sind, weil sie sich in der Tat über die Bekundungen der andern stellen, und sie REFLEKTIEREN. Also der Moral-Standpunkt ist tatsächlich derjenige, in dem das Ganze der bisherigen Argumentation und daraus folgende Auftreten von Konfliktparteien (egal, ob man selbst eine ist oder nicht) durchgearbeitet wird, und die Standpunkte zur Gänze der einen mit denen der andern verglichen werden.
Das haben wir in einem gewissen Umfang auch bei den drei bisherigen Standpunkten, und zwar schon aus einem ganz entscheidenden Grund:
Die fortgeschrittenen Teilnehmer einer Kooperation (in der Beteiligte Forderungen aneinander stellen), die zB auf dem Rechts-Standpunkt stehen und ihre Argumentation, ihre Legitimation (einer Forderung an Kooperationspartner) nicht mehr mit einer unmittelbaren Erfolgs-Gewissheit begründen, die sie gegen die andern geltend machen – die treffen leider nicht nur auf ihresgleichen, sondern auch auf diese andern – und die fügen sich der fortgeschritten-legitimierten Forderung nicht. Das heisst, es gibt eine extreme Asymmetrie, die gibts zwar auch noch zwischen solchen auf dem Rechts-Standpunkt, aber natürlich erst recht zwischen Trägern verschiedener Standpunkte, die einen begründen völlig anders als die andern; genauer, begründen in einer überlegenen Weise, das ist das entscheidende – und diese Überlegenheit wird von den andern, den „Erfolgs-gewissen“ Kontrahenten, nicht gesehen – diese andern haben einen Differenzierungsschritt, einen Bedingungsschritt noch nicht gemacht, den nämlich: Man erhebt nur noch Forderungen, die sich begründen, wenn überraschend eine unvorhergesehen neue Situation eingetreten ist (zumindest in der „öffentlichen“, der Rechts-Sphäre), die sich entweder auf das KS bzw das investierte solche, das ES, oder aber auf die Randumstände beziehen – aber nicht mehr auf ein Praxisfragment (bei dem man sich darauf beruft, dass man es „anders erwartet hat als es nun gekommen ist“). Und dieser Ent-Differenzierungs-Schritt, der da stattfindet und die Asymmetrie begründet, zwingt den Fortgeschrittenen ein Auftreten auf, das sie eigentlich hinter sich gelassen hatten: Einen Kampf um prinzipielle Anerkennung, „Respekt“. Das gilt generell: Die primitiveren Standpunkte, die undifferenzierteren, bestimmen das Verhältnis. Das ist tragisch. Aber es ist eine historische Tatsache. Die Fortgeschrittenen können in dieser Differenz, in diesem Gefälle natürlich den Unterschied sehr genau wahrnehmen, sie können ihn uU deshalb auch sehr viel genauer erklären und verstehen als die andern – aber die wollen ja nicht auf sie hören. Diese Reflexion findet also auch schon vorher statt, indem die Fortgeschrittenen die Differenz mehr oder weniger klar erkennen, würden sie die unmittelbar zum Inhalt einer Forderung machen, und sagen: Überwinde die Differenz doch endlich! (du Zurückgebliebener…) – dann wären sie natürlich genauso naiv wie die andern, wären schon zurückgefallen in ein unvermitteltes, aber aus ihrer Warte höchst-berechtigtes Fordern – aber ihren Fortschritt können sie eben auch nicht vermitteln. Das, was sich an den späteren Weltverhältnissen in noch zugespitzteren Formen zeigen wird (etwa im Verhältnis von genuin experimentell-religiös Eingestellten zu Normalplanern): dass nämlich die Fortgeschrittenen sich nicht vermitteln können – das haben wir hier bereits auch. Wir haben es hier mit einer Entwicklungsreihe der Vergesellschaftungs-Standpunkte in Richtung Politisierung und dann weiter zur Moral zu tun, den 4 Standpunkten also, die bisher betrachtet wurden – einer Stufenreihe, die eine ganze Riesenepoche ausmacht. Man könnte sagen: die gesamte Frühantike und Antike dreht sich um DIESE Fortschrittsreihe. Und sie ist ja – das ist das verrückte – nicht einfach nur eine politische Fortschrittsreihe, sondern die politischen Fortschritte, die Vergesellschaftungskonzepte, die reiferen, gehen einher mit einem Fortschritt, einer Ausdifferenzierung des Weltverhältnisses, oder seiner „Reifung“.
2.
Und noch etwas zweites muss nachgetragen werden: Es hat ja seinen Grund, dass diese Schritte so lange brauchen, um sich zu konsolidieren – die „fortgeschrittenen“ Konzepte sind virtuell schon im ersten Standpunkt da (spätestens in fortgeschrittenen, historisch gebildeten Schichten und Epochen). Also es ist gut möglich, dass jemand nicht nur sagt: ich bin, wir sind überlegen, sondern eben auch ein Bewusstein davon hat und es auch so ausspricht, dass er doch AUCH legitim fordert, dass das Geforderte doch AUCH im (langfristigen) Interesse des andern liegt, ja sogar moralisch geboten ist – all das kann in Auseinandersetzungen und Begründungen, bevor es dann gewaltsam zur Sache geht, zwischen Kontrahenten auf dem ersten Standpunkt vorkommen ((und nur in GANZ archaischen Verhältnissen vielleicht noch nicht)). Also man kann sich fragen, inwiefern die höheren Standpunkte da wirklich schon ganz ausgebildet sind als Konzept, und wann, unter welchen Umständen sie es dann tatsächlich sind – aber sagen wir mal, als Denk- und Redemöglichkeit schon in Friedensverhandlungen könnte schon vorkommen: Ihr könntet uns doch auch hier dies und das zugestehen, könntet das lassen gegen uns vorzugehen, und uns zu unterwerfen versuchen – es ist da ja immer schon präsent, dieses „Liebäugeln“ mit dem zweiten Standpunkt, wo man das Prinzipielle des Unterwerfenwollens der Andern aufgegeben hat, oder des dauerhaft Beherrschen- und sie-Bevormunden-Wollens.
Man muss sich klarmachen, wie ungeheuer viel Geschichten erzählt werden müssten, und plausibel sein müssen, wie ungeheuer viel erlebt sein muss, damit sich dieses Resignieren im bezug auf die Durchsetzung, diese prinzipielle Selbst-Durchsetzung, tatsächlich konsolidiert und zum Standpunkt verfestigt, den man ab da dauerhaft einnimmt – zumindest gegenüber DIESEN bisherigen Feinden. Wer sich so auf den 2.Stp. gestellt hat, wird ja sofort wieder herausgefordert – er hat ja als quasi Insel unter lauter Gewaltkonkurrenten wenig Chancen – die Legitimierer denken sich zwar ihr Teil, aber sie müssen sich gleichzeitig ständig der Versuche anderer erwehren, sie eben doch noch dauerhaft zu unterwerfen. Das heisst, diese ganze Reifungsbewegung ist historisch unendlich in die Länge gezogen. Wir reden hier mit dürren, abstrakten Worten über Schritte, die natürlich WIR mit grosser Geschwindigkeit zurückgelegt haben – da komme ich noch drauf – also heute ist das natürlich schon Kindern angesichts einer bestimmten kulturellen Umgebung geläufig – es sind heute Schritte, die zumindest Kindern nahegelegt werden – ob sie sie dann auch wirklich vollzehen, als Erwachsene in einer Gewaltkonkurrenz von Staaten, ist eine andre Frage (und eine andre Ebene, als die persönliche; obschon die gleiche Logik!) – aber die Kategorien sind auf jeden Fall reif ausgeprägt und tradierbar vorhanden – und das ist natürlich in archaischen Gesellschaften nicht so ohne weiteres zu erwarten. Und nochmal gesagt: Bis sich der Standpunkt auf alle Felder möglicher Konflikte mit allen möglichen Gruppen, beliebiger Grössenordnungen, ausgedehnt hat – da können schon mal ein paar tausend Jahre vergehen. Das wirklich Komplizierte daran ist, dass die Geschichten, die man erzählen muss, um da etwas zu begreifen – als Nachwachsender, Angehöriger etwa einer Führungs- oder Kriegerschicht etwa – , erst einmal gesammelt werden müssen, das findet ja normalerweise garnicht in nur einer Völkerschaft statt, die kriegerisch agiert, sondern da sind unter Umständen Geschichten zu erzählen von vielen verschiedenen Kriegsschauplätzen, Kriegsverläufen – Geschichten ohne Ende… und das Tradieren, Immer-Wieder-Weiter-Erzählen muss ja noch dazukommen, damit tatsächlich ein so weit reichendes Lernen stattfinden kann – obwohl es sich immer nur um Episoden handelt, Episoden im Leben von Kriegern, etwa (das Leben selbst ist davon meist getrennt)… müssen viele solche Episoden erlebt UND tradiert worden sein, damit später Nachkommende diese weitreichende, konsolidierte Konsequenz ziehen können, und zumindest mal unter sich zB als eine (mehr oder weniger grosse) Binnengruppe (etwa als eine Kriegerkaste) dieses Verhältnis aufbauen des wechselseitigen „Respekts“ und des somit nur noch „legitimen“ Forderns. Und natürlich das zugehörige Auseinanerweichen, das Auftrennen der Bedingtheiten, der bedingt-subjektiven nach der einen, der bedingt-objektiven nach der andern Seite; dh es kommt eben diese eine, die bedingte Praxisregel-Form, wo das Lernen Aberglaube und Magie zur Folge hat, nicht mehr vor. Dies Auseinanderweichen muss absolviert sein, als Konsequenz seis von Erfahrungen, eignen und berichteten, aus Kriegen;, aber vielleicht auch nach gezieltem (abergläubisch-magischem) Suchen und Herbeiführen von Bedingungen für Erfolg und Misserfolg (im Krieg oder beim Zaubern, wo auch immer), überall da kann man ja gewisse Enttäuschungen erleben, die in ihrer Summe allerdings in eine andere Richtung weisen, nämlich dass man am Erkennen von, und Umgang mit Bedingungen und Bedingtheiten generell arbeitet: getrennt denen für leibliche Handlungsspielräume und Motive; und denen für objektive Sachverhalte, Dispositionen, Anzeichen, Verteilungen…
3.
Jetzt haben wir also diese Ebene der Legitimation erreicht, und der schwierige Aufstieg zur nächsten Stufe wiederholt sich nach oben noch einmal, durch die Abtrennung der Interessen und des Haltbaren in empört bzw überzeugt vertretenen Positionen, und es ist wichtig sich klarzumachen: Das sind Differenzierungsschritte, die prekär sind; einmal, indem sie diese asymmetrischen Verhältnisse begründen, in denen die Zurückgebliebeneren den andern das Verhältnis im Zweifel aufzwingen. Und zum andern, weil die Allgegenwart dieser zurückgebliebenen Standpunkte auch ein Grund dafür ist, warum (ausser, die zu erzählenden Geschichten und Erfahrungsberichte weisen felsenfest in eine ganz andere Richtung) die Träger fortgeschrittener Standpunkte wieder in die früheren zurückfallen können – das dann sogar mit ihren fortgeschrittenen Standpunkten als „Inhalt“, etwa so: „Das Respektieren und Kämpfen ausschliesslich für legitimierbare Forderungen ist so überlegen, das zeigen wir euch jetzt ein für alle mal!“ – Und schon sind sie wieder in die absolute Gewaltkonkurrenz abgestiegen.
Auf diese Geschichte also blicken solche zurück, für die das moralische Fordern und die Gleichbehandlung aller mehr ist als eine bloss rhetorische Floskel, eine rein verbale Zusatzlegitimation “ …abgesehen davon, dass wir die Stärkeren sind und sowieso mit unseren Einschätzungen und Plänen immer erfolgreich – ist alles, was wir von andern verlangen, jetzt auch gerecht und GUT, denn es ist IMMER (starrgestellt, „a fortiori“) zu ihrem Besten, wenn sie auf uns hören (und gehorchen)“. – Das Konzept der gerechten Verteilung etwa kommt natürlich auch schon viel früher vor. Das Ungerechte – dass welche mehr bekommen, als ihnen zusteht – geht immer da los, wo etwas Knappes aufgeteilt werden soll, das soll gerecht geteilt werden, es gibt keinen Grund, warum die einen mehr bekommen sollen als die andren – also diese Art von Gerechtigkeit gehört ja, wenn Verteilungsprobleme zu lösen sind, zum Standardrepertoire auch schon des Legitimierens auf dem zweiten Standpunkt. Es kann sogar Anlass zu Kämpfen sein, wenn es da irgendwo krass ungerecht zuging – weswegen man sagen kann, dass dieses Gerechtigkeitskonzept natürlich immer schon vorhanden ist – auch in einer Normalvergesellschaftung, in Binnengruppen kann schon lang durchgesetzt sein „es soll gerecht zugehen, warum bekommt der mehr als ich (oder sowas).. das soll nicht sein…“ unabhängig davon, was eigentlich sonst grundsätzlich an Vergesellschaftungsprinzipien nach aussen vertreten wird. So ist also das Gerechtigkeitsdenken an sich schon da, Gleichbehandlung aller – neu ist, wenn es sich auf Fremde, Ungekannte, ausdehnt – etwa als Räsonnement von Menschen, die eigentlich sich um den Staat sorgen ((um seine Stabilität und die endlosen Verteilungskämpfe der Art „Die haben was bekommen, und wir nicht“… in einer Konkurrenz von mehr oder weniger kampf-entschlossenen, „empörten“ Interessenträgern)) – und die also immer schon konfrontiert waren mit solchen Kämpfen, und sich fragen: Wann ist das eigentlich endlich mal stabil? Wie sähe denn eine „Gleichverteilung“ aus? Dass sie damit die Grenze des Realistischen und Realisierbaren unter normalplanerischen Gesichtspunkten überschreiten, hat damit zu tun, dass sie konfrontiert werden mit der bis zuletzt, (also auch unter Staatsbürgern mit dem dritten Standpunkt, oder Staatsmenschen, die über die andern „herrschen“ mit diesem Staatsgesichtspunkt) anhaltenden Bedingtheit aller Forderungen und Erwartungen. Die Forderungen und Erwartungen sind gebunden an Situationen einerseits, die überraschend sind, die ungewöhnlich sind… und andererseits an die Normalität der Betreffenden, und da kann man immer nur hoffen, dass sie einigermassen in derselben Welt leben und ihren Platz darin haben, der gut bewährt und eingerichtet ist, denn sonst haben sie völlig unterschiedliche Vorstellungen davon, was normal ist, und was sie wie sehr überrascht.
4.
Diese Bedingtheit aller Interessenlagen ist es, die jetzt im moralischen Denken auf den Prüfstand kommt. – In diesem Denken wird tatsächlich in einem gewissen Umfang das normalplanerische Verhältnis zur Welt überhaupt reflektiert: Es wird darum zum Gegenstand gemacht bzw reflexiv, weil tatsächlich diese gesamten Kategorien (bei verschiedenen Interessensträgern, die unterschiedliche Vorteile und Privilegien haben, oder fortgeschrittener sind in ihren Projekten (Individualitäten) als je andere, die darum jetzt gefördert werden sollen), weil all die Momente, die in die Interessiertheit einfliessen, und sie begründen, jetzt plötzlich verglichen werden zwischen verschiedenen Subjekten. Weshalb die Begrifflichkeit enorm ausdifferenziert wird und geschärft, mit der man so etwas überhaupt beschreibt. Natürlich können auch Staatsmenschen das schon tun – sich die Gründe der Interessiertheit anschauen. Aber bei ihnen ist das ist alles noch immer eingebettet in eine Situation, in der auch die Staatsvertreter selbst Interessen- und Meinungsträger sind (nämlich der Staatsmeinungen;und des abstrakten Staatsinteresses an Stabilität und Haltbarkeit… unter den gegebnen Umständen – die (obwohl höchst bedingt und voraussetzungsreich) zu erhalten sind auf all die Weisen, die sich politisch „bewährt“ haben… solang, bis sie nicht mehr haltbar sind.. (und sich das mal wieder auf affektiv schlagende Weise zeigt..). Als Inhaber dieser „Staatsräson“ erheben sie sich nicht über diese Voraussetzungen, und fragen somit auch nicht: Wie sähe das eigentlich aus, wenn alle im Rahmen ihrer Bedingungen – da kommt jetzt das unvermeidlich Eigene wieder rein (Vorwegnahme, Spoiler: verschiedene, nicht ineinander überführbare Individualitäten!) – gleich weit fortgeschritten wären – und niemand, keine Gruppe, mehr sich darüber beschweren kann, dass ein anderer in seinem Rahmen (dh seiner, ihrer Individualität) soviel besser gestellt ist. Dieses SEINE, das Eigne des einen und des andern, das da moralisch verglichen wird – die gleiche Fortgeschrittenheit im je eignen Projekt – das ist das Irreduzible schlechthin im normalplanerischen – das ist im ersten Standpunkt aufgetaucht in Gestalt MEINER Einsicht in Erfolgsträchtigkeit und Misserfolgsträchtigkeit von Versuchen. Und die gedachte (idelle, bloss vorgestellte) Erhebung darüber geschieht nicht umsonst im – grammatischen Irrealis.
Zu diesem „Eignen“ der Normalplaner nochmal kurz dieser folgende Rückblick auf das bisher dazu Entwickelte:
Meine Entscheidungen aufgrund MEINER Schätzungen solcher Erfolgssicherheiten sollen letztlich gelten, und die sind unvermittelt-unvermittelbar, im Zweifel kann ich sie dir nur aufzwingen, wobei du dann auch noch anzuerkennen hast, was ich an Psychologismen und psychologisierend über dich und den Grund des Mangels in DEINER Erfolgsschätzung sage: Ja stimmt, ich bin blöd, du bist sowieso und immer besser als ich usw. Oder: Ja ich bin unwillig, muss mich bessern usw – Wie nun mal entweder glaubhaft gelogen-geheuchelt wird gegenüber momentan Überlegenen und Herrschern – oder aber ehrlich deren Anspruch als Autorität anerkannt. Aber „das Eigne“ (auch des Andern; das mit dem eignen Eignen verglichen werden kann oder könnte) ist natürlich spätestens ab dem 2.Standpunkt thematisch, als ein Nicht-Vermittelbares – also es gibt eine eigne Sicht der Dinge, deine und meine (das ist entscheidend), und da rede ich dir auch nicht rein, ich anerkenne dich als einen Eigentümer, und wenn wir mehr sind, das Gefüge der Eigentümer oder deren konflikträchtige Gemeinschaft. Aber da wird man das Eigne, das Unvermittelbare der Überzeugtheit des Normalplaners von seinen Einschätzungen, ja nicht los. Es sei denn, man lebt sowieso schon in einer geteilten Normalität, das ist dann was anderes. Aber sobald die Lerngeschichten ein bisschen differerieren, gehts ja schon los mit der Unterschiedlichkeit der Meinungen, man wird also dieses eigene nicht los, und auch der Moralist hat es zum Ausgangspunkt seines Räsonnierens – denn die moralische Reflexion setzt normalerweise erst ein, wenn es tatsächlich einen Unterschied der zumindest gedachten Ansprüche aneinander gibt – also wenn der eine mit der Lage zufrieden ist, und der andere Grund hat, sobald „gleich verteilt“ sein oder werden soll, eine Forderung zu stellen.
5.
Ich will jetzt an der Stelle kurz nochmal zurückkommen auf die Zuweisung von existenziellen Zeithorizonten an die Standpunkte. Wir haben es jetzt beim Moralisieren, moralischen Betrachten mit einem 4.Stp zu tun, der über alle Zeithorizonte hinaus ist; also er will gewissermassen für alle Zeiten gültige Normen und Vergesellschaftungsformen finden, und das hat dann einen eigenen Namen bekommen in meinem Privatjargon, ich habe das eine Mentalität oder eine Begründungsweise genannt. Das soll also alles umfassen, was Menschen einer Zeit als normativ verbindlich, als nicht mehr hintergehbare Norm, auch für rationales Handeln, ausgeben. Das heisst, es reguliert auch noch, was für einer Individualität (bei gegebnem Erfahrungsstand) man sich mit welchen guten Gründen anschliesst, also was für einer Art Gruppe mit biografien-übergreifenden Projekt. Anders gesagt, was man als rational und geboten und eventuell moralisch geboten, moralisch richtig ansieht. So dass man da wählt oder sich auch mal gegen was entscheidet, weil das moralisch untragbar geworden ist – man erinnert sich ja vielleicht, dass ich gesagt habe, dieses biografien-übergreifende nenne ich die Individualität, das Projekt, dem man sich anschliesst, und das möglicherweise zu diesem Zeitpunkt schon eine Geschichte hat, und das unbestimmt viele unter den Zeitgenossen sich gleichzeitig zueigen machen können, das aber die eigene Biografie überdauern kann oder wird, wo ich also etwas werde tradieren müssen. – Das also habe ich „Indiviualität“ genannt; hingegen was man selber in seiner erwartbaren Lebensspanne sich vornimmt zu erreichen, hatte ich Lebensentwurf genannt, im Rahmen der Lebensform der eigenen Zeitgenossen, die mit einem zusammenleben, das sind natürlich dann auch verschiedene, aber das nennt man dann auch die eigene Generation, das überschneidet sich natürlich mit denen, die vor uns schon, als Erwachsene, da waren, und uns instruiert haben, und die uns haben aufwachsen lassen und uns etwas tradiert haben und uns ausgebildet haben, und andererseits denen, die wir selbst aufziehen, die uns mutmasslich überleben, und denen wir unsere Errungenschaften tradieren. Und die von Tag zu Tag zu lösenden Aufgaben stehen dann noch einmal eine Stufe tiefer, die Alltagseinrichtung, die Art der Lebensführung; und wenn DIE sich orientiert an einer langfristigen Aufgabenstellung, der man sich verschreibt, resultierend „von oben her“ aus dem Lebensentwurf und aus der Individualität, die einem (vielleicht einfach im Rahmen der aktuellen Gesellschaft, Normalität) als „Rolle“ zugewiesen wurde, dann nenne ich das Identität.
Identität,
Lebensentwurf im Rahmen der Lebensform der eigenen Generation,
Individualität:
das sind dann die drei grossen existenziellen Entscheidungsräume, formell gesprochen, es sind freilich weniger Entscheidungsräume als vielmehr FRISTEN, für die man etwas festlegen MUSS als Erwachsener: aber auch nur, wenn man soweit kommt, denn das gilt natürlich nicht für Leute, die sich in ihrem Alltag durchschlagen und von Woche zu Woche, oder sogar nur von Tat zu Tag leben können, und nicht wissen, wie es danach weitergeht. Also die Zeithorizonte müssen schon sehr sicher sein und perspektivisch sehr weit in die mutmassliche eigene Lebens-Zeit hinein ausgedehnt, wenn man meinen kann, da Entscheidungen treffen zu sollen – und die Freiheit zu haben, das zu tun.
6.
Und jetzt kommt also noch mehr Luxus dazu, Reflexion auf die Art und Weise, wie man da wählt, und nach welchen Gesichtspunkten man da wählen sollte, und da ist man also vielleicht mit seiner Individualität (im Rahmen der Gemeinschaft, der man angehört, die vielleicht auch schon staatlich organisiert ist, in der auf jeden Fall Interessen berücksichtigt werden, und die Kategorie Interesse jedenfalls bereits existiert) bei der Frage gelandet: Wieso eigentlich diese Interessen immerzu nur bedingt sind, was sie bedingt, und wie man diese Bedingtheit überwinden könnte zugunsten eines unbedingten Prinzips? Das wird hier gesucht – wie kann eine Forderung aussehen, der eigentlich alle zustimmen können, weil sie ein dauerhaft stabiles Verhältnis aller zu allen begründet, und da ist es eben naheliegend zu sagen: Alle sollen gleich behandelt werden, gleich gut dastehen – und ich hatte das etwas präziser SO gefasst: Alle sollen in den Hinsichten, die sie als ihre EIGENEN, nicht mit andern vermittelbaren oder teilbaren ansehen, gleich weit fortgeschritten sein. In dieser Formulierung taucht schon dieses ewig moralische Sich-am-Konflikt-Orientieren auf, nämlich so: Es sind zwei Subjekte in Betracht gezogen, von denen jedes ein eigenes (Teil)Projekt hat, das es mit dem andern nicht teilen kann.
Das hierdurch Ausgeschlossene wäre also: ein geteiltes Projekt (iSv Individualität) – da tauchen auch keine moralischen Fragestellungen auf – wenn alle (oder beide) das in gleicher Weise wollen, ist noch nicht mal von Interesse, ob sie in gleicher Weise dazu beitragen, weil sie wollen es ja, und dann macht halt jeder soviel, wie er kann und will – wenn das Projekt dann nicht vorankommt, es auch sein Schaden. Da gibt es also noch nicht einmal Trittbrettfahrerei, dh also da ist der Ausgangspunkt jeden moralischen Denkens bereits überwunden, und umgekehrt, wenn moralisch raisonniert wird, wäre erstmal zu fragen: Haben diese Leute überhaupt einen Interessengegensatz? Also der Begriff des TEILBAREN und GEMEINSAMEN INTERESSES ist offensichtlich hier nicht universalisierbar, sondern er trifft auf Grenzen, und da geht dann das moralische Reflektieren los, und stellt sich die Frage, wie die Bedingtheit der momentanen Interessenlagen überwunden werden kann zugunsten eines UNbedingten Prinzips, das, selbst wenn es ständig korrekturbedürftige Abweichungen von ihm gibt, die Richtung vorgibt, wie vorgegangen werden soll: Gerechtigkeit – Gleichverteilung – Gleichweit-Fortgeschrittensein in dem je eigenen Projekt, das man mit den andern nicht teilen kann.
Diese Forderung nach Gerechtigkeit, Gleichheit, Vergleichbarkeit richtet sich also jetzt spätestens an Vertreter des Interessenkonzepts, tritt ihnen gegenüber und sagt: Das müsste euch doch einleuchten, dass diejenige Ordnung von Interessen im Interesse aller ist, in der es überhaupt kein Gefälle mehr gibt. Also nicht nur, dass ich mich mit Ungleichheit abfinde, weil das immer noch eine bessere wäre als jede andere Ordnung, weil ich da doch auch noch einen Vorteil habe – dieses ständige Zusammenkratzen von interessierten, aber minderbemittelten Verbündeten gegenüber den deutlich schlechter Gestellten, die durch Umverteilung gewinnen würden, während wir verlieren (Pareto-Optimum) wird aufgegeben, und es wird einfach schlichtweg alles an Ressourcen gleichverteilt, oder genau das nicht, sondern so, dass „alle gleich gut“ dastehen. So wird es vorgeschlagen. Und warum ist das jetzt unrealistisch? Warum funktioniert das Prinzip des Gleich-Dastehens nicht, das als Ideal doch allen unmittelbar einleuchtet – also zumindest allen, die als Personen doch gleich sind und vergleichbar als solche sein sollen?
7.
Der Vergleich, hatte ich gesagt, ist etwas, das ungeheuer naheliegt – etwas soll gleich verteilt werden – das ist normalerweise der Ausgangspunkt, der zu den ausgleichenden Gerechtigkeitsideen führt – der normale Ausgangspunkt ist ja die Herausforderung durch und für die „austeilende Gerechtigkeit“ – es steht etwas zur Verteilung an, und es wird gleich aufgeteilt – ein Erbe, etwa; und das ist ungerecht, wenn ungleiche gleiches bekommen – also muss man ausgleichen. Diese Vorstellung ist ganz archaisch, ganz elementar, kann auch unter überaus kooperativen Menschen vorkommen, Geschwistern etwa, die die Erb-Verteilung gemeinschaftlich regeln wollen – und jetzt soll das zum Prinzip erhoben werden – und die Antwort darauf lautet – dass die Streitigkeiten dadurch niemals beigelegt werden können (sobald sie überhaupt auftauchen), weil die Vorstellungen von Vergleichbarkeit genau wieder ansetzen an der individuellen Anspruchshaltung, die begründet ist durch die eigne Normalität, die eigenen Bedürftigkeiten, die sich zeigen in Überraschungssituationen kurz zuvor – und/oder grundlegender, wenn Leute ohnehin ihre Normalität nicht teilen, das war ja der Ausgangspunkt der Möglichkeit des Streits, dass sie die nicht teilen – sie haben da verschiedene Projekte, in denen sie gleich weit fortgeschritten sein sollten – aber die Beurteilung, was bei dir „gleich weit fortgeschritten sein wie ich“ hiesse, mache ich mit meinen Kriterien. Ich kann mich zwar hineindenken in DEIN Fortschrittskonzept (der empathische Vermittler kann mir DEINE Geschichte erzählen, deine Normalität nahebringen, in die DU hineingewachsen bist…) – aber die Präferenzen, die du haben solltest, aus meiner Warte – das sind natürlich MEINE, und deine anerkenne ich nicht – sonst hätten wir ja, wenn wir gleiche Präferenzen hätten, und auch noch gleiche Vorstellungen davon, was geht und was nicht (der Rahmen des Normalplanens ist ja noch nicht verlassen) – auch keinen moralisch zu lösenden Konflikt, sondern unsere Ausgangs-Individualitäten zu EINER verarbeitet, unsre Lebensentwürfe zu einem gekoppelten, unsre momentane Lage zu einer grundsätzlich kooperativen – wir hätten dann also garkeinen Interessenunterschied, der moralisch reguliert werden muss, sondern dann hätten wir ja dieselbe Vorstellung von dem, was getan werden soll. Das heisst, die Bedingtheit von Beurteilungen relativer Fortgeschrittenheit durch das eigene Plankonzept wird nicht aufgehoben, wenn man sagt, alle sollen vergleichbar sein – dass sie vergleichbar sind, heisst eben genau nicht, dass sie das gleiche Projekt auch wirklich HABEN, in das sie jeweils gleiche Handlungsspielräume einbringen nach gleichen Kriterien, oder in das sie überhaupt Handlungsspielräume einbringen – sondern sie haben eben VERSCHIEDENE Projekte – und es ist unmöglich, dass sie die als IHRE anerkennen.
Anm. Das eingangs in diesem Abs. als Ausgangspunkt angeführte formell Gleiches Verteilen – jeder bekommt gleich viel von einem aufzuteilenden Vorrat an was immer – erscheint, wie ausgeführt, sofort ungerecht, wenn der Zuwachs für jeden schon wieder ungleich viel bedeutet, in seinem Kontext. Und das kann sich sogar dann noch so darstellen, wenn alle zuvor sich im gegenseitigen Einverständnis für momentan gleichgestellt, also in ihren Projekten, Individualitäten für gleich weit fortgeschritten wie „die Andern“ erklärt haben, und niemand mit irgendeiner andern solchen Partei „tauschen“ wollte – in dem Sinn (das ist ja die Grundoperation, die hier ständig zur Anwendung kommt), dass es diesen Andern AUF IHREN GRUNDLAGEN (im Rahmen ihrer Individualität) besser zu gehen scheint, als uns, auf unseren (im Rahmen unserer Individualität). Das Mass des Vergleichs scheint hier also zu sein: „wie gut es einem geht“. Und wenn durch Zuteilung des selben, selbst auf diesen Grundlagen, aufgrund dieses Zuwachses dein Wohlergehen (Fortschritt in deinem Projekt) grösser ist als meins – muss statt austeilender schon wieder ausgleichende Gerechtigkeit walten. Man entkommt ihr einfach nicht…
8.
Der Vergleich funktioniert nicht, weil der Masstab des Vergleichs, das Kriterium des Vergleichs nicht dasselbe sein KANN. Sobald die Frage auftaucht – sobald der Konflikt auftaucht – und obwohl der Begriff des Gleichweit-Fortgeschrittenseins (in der je eigenen Individualität, Lebensentwurf, Lebensepisode…) grundsätzlich von allen Beteiligten gebildet werden kann, und die Vergleichbarkeit zu fordern ist, ist nach den Masstäben der normalplanerischen Plan-Rationalität diese Vergleichbarkeit nicht herstellbar: Darum, weil die Forderung der Universalisierbarkeit zwar besteht, aber nicht eingelöst wird – das normalplanerische Vorgehen, die EIGNE Individualität (den Lebensentwurf, den Alltag.. ) ist in einem solchen Mass perspektivisch angebunden an die Bedingtheit durch die Ausgangs-Normalität, und bestenfalls noch die Überraschungs-Geschichte, die man damit und darin zurückgelegt hat, dass sie einfach nicht an andere angelehnt und auf andere angewendet werden kann, die eine eigene Geschichte haben, so dass sich das vermitteln lässt. Und dieser Gedanke der Vermittlung – die Frage was FEHLT denn da, dass man etwas nach der eigenen Einsicht Gleiches den andern nicht als solches nahebringen kann – sodass man sagen muss: Du kannst Gerechtigkeit garnicht sinnvoll fordern von Leuten, die diese Differenz nicht überwunden haben – diese Einsicht: Da muss es was geben, was die erfahren müssen, sodass sie dann doch zustimmen – führt zu dem sog. Vermittlungs-Standpunkt des Normalplanens. Das heisst: Ausser der ganzen bisher schon entfalteten Verfahrensgeschichte, dem ganzen Erfahrungsmaterial, das man ohnehin kennen müsste, um bestimmte Einzelmassnahmen sinnvoll zufinden, zumindest wenn man überhaupt zu den jeweiligen Differenzierungsschritten gelangt ist – ausserhalb und abgesehen davon, gibt es also etwas, das noch hinzukommt. Und ich habe dieses Hinzukommende ja eben bereits zugespitzt auf diese Vorstellung: Der Nicht-Zustimmende weiss etwas nicht, was dem Andern zugestossen ist – dem Nicht-Kooperationswilligen sollte diese Gefühls-Intensität, wie sich das für den Andern angefühlt hat, deutlich gemacht werden. Derjenige, der ihm das deutlich macht, derjenige, der das vermittelt, als Mediator womöglich – der muss sich natürlich eingefühlt haben – er muss sich in BEIDE EINGEFÜHLT HABEN – und jetzt fängt er an, diese seine Einfühlung, in das, wie sich was angefühlt hat derart, dass der eine seine Forderung so gestaltet, und der andere so, ihnen zu vermitteln. Weshalb ich das übrgens auch den Empathie-Standpunkt nenne. Und er bezieht sich da jeweils auf das dynamische Element, das auch meistens in den Vordergrund tritt bei den Verständigungsversuchen über die Gleichbehandlung, der Lösung eines moralischen Probelms, wo es immer heisst: Ich bin aber SO bedürftig, und der andre: Ich aber so… und darum hab ich mehr zu kriegen oder du… Da treten als Grund auf Bedürftigkeiten aufgrund von Überraschungen, aufgrund einer bis dahin funktionierenden Normalität, die etwas entscheidend modifizieren – die einen Unterschied machen. Die will der empathische Vermittler der jeweils andern Partei nahebringen. Und die andere Partei kann sich da vielleicht rühren lassen, durchaus, aber… das was modifiziert wird, wird nicht mehr vermittelt: Das ist die Normalität der andern – deren Normalerwartungen. Da kann der andre sagen: „Der andre mag schon enttäuscht sein und aus allen Wolken gefallen, aber schau dir mal an, mit was für einer Anspruchshaltung der in die ganze Auseinandersetzung reingegangen ist, und wie der überhaupt gelebt hat – das kann ich nicht anerkennen, ich hab diese Anspruchshaltung nicht – der hat schon sein ganzes Leben lang Förderung bekommen, das war schon immer ungerecht – der hat Normalerwartungen, die ich nicht habe, und die sind viel zu gut.“
9.
Die Forderung, die der empathische Vermittler an seinen Adressaten richtet, hat eine paradoxe Färbung. Man wird gleich feststellen, an was für ein berühmtes Vorbild damit auch erinnert wird. Diese Forderung hat nämlich die Färbung: Behandle die Normalerwartungen des andern so, als wären es deine eignen, obwohl du die ja nicht hast. Und das berühmte Vorbild ist die Nächstenliebe der Christen. Also die Aufforderung, die Sache des andern so zu betreiben, als wären seine Normalerwartungen die eignen, den Nächsten so lieben wie man sich selbst liebt, so gut behandeln wie sich selbst, obwohl seine Sache nicht die eigne ist – der Horizont, in dem der sich bewegt an Erwartungen, das Elementarmaterial, mit dem er als Normalplaner seine Vorschläge, seine Absichten und Pläne für sich und Vorschläge an die andern nun mal bestreiten – obwohl man das alles nicht gemeinsam hat, soll da zur Überbrückung nun dieses „als ob“ eintreten – und das ist verrückt – eine verrückte Forderung. Solange man Erwartungen und Risiken- und Chancen-Schätzungen grundsätzlicher Art, was in der Welt möglich ist, zugrundelegt, und davon abhängig macht, wieviel man investiert in ein Projekt, wie lohnend man etwas findet oder nicht, und wieviel Gesamtspielraum man überhaupt für Projekte aufwendet, was man sich maximal erhofft usw – solange, sage ich, man das nicht alles teilt – eine Normalität teilt – solange ist die Forderung schon im Ansatz paradox und irreal. Du sollst so tun als ob – warum soll man? Warum soll man den andern anerkennen, der etwas erwartet, was ich für verrückt halte? Der ist für mich wie ein Kind, oder ein Irrer – wenn man es ganz hart sagen will – letztlich fällt das auf mich zurück, weil man sagen kann: Meine Erwartungen sind auch nicht besser – wir haben diese Struktur, diese Bedingtheit durch das, worin wir aufgewachsen sind, was uns geprägt hat, mitsamt der Affektgeschichte, den überraschenden guten und schlechten, schrecklichen und glücklichen Änderungen der urprünglichen Normalität, die uns beeinflusst, beeindruckt haben – und wenn wir die nicht mehr haben, haben wir garnichts. Und darüber soll ich mich jetzt hinwegsetzen? das ist MEINE Entscheidungsgrundlage – es scheint ein irreduzibel Eigenes zu sein. Und angesichts der Art und Weise, wie da entschieden wird – wenn man anfängt, sich da zu vergleichen, kann man sich nochmal in eine Metaposition begeben, sich darüberstellen, und sagen: Eins ist so gut wie das andre. Es ist eine Normalität so gut wie die andre… der andre hat aber eine andre… und es ist nun mal eine Geschichte des Überhaupt-Überraschtwerden könnens – und die andre ist halt eine andere solche Geschichte – aber Überraschtwerden und überhaupt mit etwas bestimmtem affektiv rechnen – als etwas, das gehen könnte, und was einen bedrohen könnte, kann soundso ausgedehnt sein, und im Grund genommen kann man sagen, es ist eins so gut wie das andre, es ist indifferent gegeneinander – der letzte Schritt wäre zu sagen: Es ist alles gleich falsch. Aber dann haben Normalplaner, wie es scheint, garkeine Grundlage mehr, auf der sie lernen können. Weil sie sich eben tatsächlich auf eine Art der Planung einlassen, in der vorab das Vorurteil besteht, dass man mit bestimmtem nicht rechnen muss. Und was das ist, womit man nicht rechnen muss, bestimmen sie nur indirekt aus dem heraus, womit sie rechnen. Mit allem anden eben nicht. Das ist ihre Normalität. Das ist dann das, an dem und mit dem sie dazugelernt haben, um es immer mehr zu verfeinern: „Aber ab JETZT ists normal, ab jetzt werden all meine Erwartungen erfüllt werden – jetzt wirds nicht mehr anders! Natürlich kanns anders werden. Man braucht sich ja nur die ganzen Geschichten der Leute ansehen, die unterschiedlich weit fortgeschritten sein sollten – Doch! Es kann anders sein! Und hier wird das Prinzip ganz kurz sichtbar, was eigentlich Normalplanung so borniert macht: Wieso soll man nicht (im Prinzip zumindest) mit allem rechnen müssen?
10.
Genau das aber rückt das Normalplanen an eine Grenze, die für Normalplaner eigentlich kurz vorm Verrücktwerden steht. Da taucht auf einmal die Möglichkeit auf, dass man mit garnichts mehr RECHNET. Die Kategorie des Erwartens, an der entlang sie im Grund genommen ihr Lernen organisieren, mal abgesehen von der Regel, mit der sie diese Routine entlang neu hereinkommende Erfahrungen anpassen, und zwar so (und das ist ihre übergreifende Erwartung), dass da was konvergiert – dass da vorerst überzogene oder zu niedrige Erwartungen immer besser den passenden Werten, den zur Welt passenden Werten, angepasst werden – diese Art, seine Routine zu verbessern entlang hereinkommender Erfahrungen und auf diese Weise zu lernen – die soll aufgegeben werden? Das ist erstmal verrückt. Es ist ein absoluter Grenzfall, denn es wird jetzt nicht dazu aufgefordert aufzugeben – sondern ohne Erwartungen zu arbeiten – nicht mit garnichts zu rechnen, sondern versuchsweise mit etwas zu rechnen – und da ist natürlich die Frage: Womit? Das ist die Frage, die jetzt bleibt: Womit… wenn ich noch keine Anhaltspunkte habe… wenn ich etwas noch nicht weiss (Normalplaner wissen ja immer schon alles Relevante; und gehen immer davon aus: jetzt reicht es, jetzt weiss ich genug, nein JETZT – jetzt spätetstens hab ichs korrigiert usw); wohingegen die Grundeinstellung jetzt hiesse: Wie stelle ich mich ein, wenn ich noch nicht weiss? Und man könnte sagen, die Grenze der Verrücktheit ist für die Normalplaner dadurch erreicht, dass sie den Blick wenden von dem Inselchen Normalität, mit dem sie operieren und dessen Ausdehnung sie erforschen, und sich stattdessen dem Horizont zuwenden des Meers an Unwissen, in dem dieses Inselchen liegt. Also die Wende, die hier vollzogen wird, besteht darin, sich zu fragen, wie man vorgeht, wenn man noch nicht weiss. Und natürlich geben Normalplaner zu, dass sie nicht alles wissen; aber die Art ihres Unwissens bestimmen sie tatsächlich als: Noch nicht ganz korrekt bestimmte Erwartungswerte – die Marken dessen, was bestenfalls und schlimmstenfalls passieren kann, was lohnt und was nicht mehr… und wie Handlungen abgewandelt werden könnten, sodass sie wieder lohnen (und erfolgreich sind).- Es gibt aber VIEL mehr zu wissen, und damit auch ist der Horizont des Unwissens viel weiter gezogen; und in dieser Situation des universellen Unwissens, des Alles-kann-jederzeit-passieren – da brauche ich eine ganz andere Art von Lernregel. Das wird an dieser Stelle deutlich, wenn der Blick gewendet wird – in diese Verrücktheit, in dieses Nichtmehrfeste, dieses Nichtmehr-Festland-artige, wo man meint sich ständig an etwas festhalten zu können – wenn man da hin schaut. Wie orientiert man sich da – dann? Es kommt jetzt, nochmal gesagt, darauf an, seinen Versuch zu wählen; und da können Normalplaner nun sagen: Wir machen doch auch einen Versuch!? Aber wie macht man einen Versuch, unter dem Gesichtspunkt, dass ALLES eigentlich sein kann? Ich brauche offenbar eine Hypothese, was sein könnte. Also es kann so viel sein, es kann besseres und schlechteres sein in der Welt – es geht aber zunächst um ein Bestdenkbares, das bis zum Beweis des Gegenteils noch nicht auszuschliessen ist. Und darunter liegt ein hypothetisches Zweit-Best-Denkbares, das auch noch nicht auszuschliessen ist, undso weiter – immer weiter die Reihe zu den je nächst-schlechteren Bestdenkbaren entlang herunter. Und man könnte sagen, der schlechteste Fall, unter diesen immer noch bestdenkbaren wäre, dass ich mich bis auf weiteres erhalte in meiner Umgebung, aber meine Situation auch noch verbessern kann (und die Versuche fortsetzen). Also die Reproduktion, die bis jetzt gelingt, maximal vorsichtig aufrechtzuerhalten, fortzuführen und zu verbessern – genau das testet immer zugleich auch die Hypothese, die unterstellt, dass es immer noch besser werden kann, ja sogar bis hinauf bis zu einem Bestdenkbaren, es sei denn, es würe widerlegt. So etwa kann man diese Hypothesenlogik auf eine offene, völlig unbekannte Situation anwenden. Also das: Wir sind existenziell grundsätzlich in einer experimentellen Situation – könnte sich so präzisieren. Und genau das ist die Form für einen Inhalt, der auf ganz andere Weise sich aus dem Normalplanen heraus entwickelt – nämlich das Finden von RELigions-Inhalten, typischen solchen – das Wort ist natürlich schwierig, weil es aus unserem Rückblick immer sich mit der institutionalisierten RELigion verbindet – aber die Überlegenheit dessen, was eben auch im nachhinein noch Religion genannt wurde, gegenüber dem, was magisch-abergläubisches Denken heisst – die kann man tatsächlich präzise so darstellen, und man kann sagen, wie es vom einen, vom magisch-abergläubischen, zum andern kommt.
Und das möchte ich gerne in der nächsten Vortragsgruppe darstellen. Das ist dann die Gruppe 4.