Teil II

Von November 2022 bis August 2023 habe ich eine Serie mit je ca. 1-stündigen Vorträgen aufgenommen. Bislang ist diese Serie nicht an ihr geplantes Ende gelangt, aber um für mich selber Übersicht herzustellen, bevor ich fortsetze, habe ich begonnen, Transkripte anzufertigen, sowie diese unmittelbaren Abschriften des mündlichen Vortrags ein bisschen auszuarbeiten, und Ergänzungen zu machen, da wo es mir notwendig schien. Man wird feststellen, dass es sich um eine Weiterentwicklung des Stoffs handelt, der in den zT qualvoll langwierigen „Untersuchungen“ aus Teil I bis ins Kap. 5 hinein erarbeitet wurde, dazu kam eine Einleitung. An diesen Texten möchte ich eigentlich noch einiges bessern, stelle sie aber trotzdem schon mal hier ein, damit ich in zwischenzeitlich geführten Debatten darauf verweisen kann.
Zu Formatierung und eigenwilligen Schreibweisen:
1. Kursivierungen dienen dem Abheben von längeren Einschüben, und sollen helfen, den Haupttext hinter dem Einschub schnell zu finden. Ausserdem sind Abweichungen der Schriftfassungen gegenüber den Vorträgen bisweilen kursiv wiedergegeben (das aber eher inkonsequent; die Abweichungen und Zusätze sind viel zu zahlreich, als dass sich eine flächendeckende Anzeige dieses Abweichens gelohnt hätte.)
2. Ziemlich konsequent durchgehalten ist hingegen die Anzeige, dass es sich um eine der von mir konstruierten Mentalitäten OPP REL MOD handelt, in Zusammensetzungen mit geläufigen Auzsdrücken: RELigiös, MODern usw. Immer soll damit daran erinnert werden, das es sich in dem Kontext um meinen, terminologisch festgelegten Sprachgebrauch handeln soll; auch wenn es sich um sinnvolle Erweiterungen handelt, also zB. MODerne= die Epoche, in der die MODerne Mentalität kulturbildend wurde usw
3. Rein erläuternde oder vom Haupttext wegführende Einschübe sind als solche ausser durch Kursivierung auch durch Doppelklammern markiert.



Vortrag 01 vom 22.11.2022
Ich möchte ein paar Vorbemerkungen machen zum Thema Theorie, Theoriedarstellung. Eine Theorie dient ja dazu, Zusammenhänge überschaubar zu machen, sichtbar zu machen, so dass Menschen, die das kennen, anschließend auch Konsequenzen daraus ziehen können. Wir haben Theorien vorliegen heute vor allen Dingen in der Naturwissenschaft. Das kann man grob auch als Vorbild nehmen für das Gegenstück im Rahmen von Handlung und Kulturgeschichte, wo wir bisher weniger erfolgreich waren; sodass das Vorbild der Naturwissenschaft, vor allen Dingen die Griffigkeit der physikalischen Grundbegriffe unerreicht bleibt – bis jetzt.

Wenn man Menschen eine Theorie versucht nahezubringen, steckt man in einem gewissen Dilemma. Die Theorie dient dazu, den Zuhörern eine Übersicht zu verschaffen, aber die ist natürlich nicht so einfach zu haben – sonst gäbe es das ja alles schon. Das heisst, man muss sich irgendwie durch Stoff durcharbeiten. Jetzt wollen Leute natürlich wissen, ob sie das wissen und sich dieser Mühe unterziehen sollen. Das bedeutet normalerweise, dass man ihnen dann doch, in irgendeiner Weise, eine Andeutung gibt, worauf das hinauslaufen soll. Wenn das nun besonders ungewöhnliche Ergebnisse sind, dann glauben sie das natürlich nicht so ohne weiteres und fragen: „Wie will man denn DA hin kommen?“ Dann fangen die Theoretiker an, ihnen das vorzumachen, um ihnen zu zeigen, dass das schon seine Richtigkeit hat, dass da Sorgfalt dahinter steckt und Überlegung. Nur leider, wenn diese Probe abgeliefert ist, wiederholt sich der Vorgang, man hat sich jetzt auf irgendein Detail der Theorie, der theoretischen Ableitung konzentriert, aber der Zusammenhang geht schon wieder verloren. Da kann man dann sagen, gut, das ist ja ganz ordentlich hier, aber wie will man denn von da zu zu so etwas Allgemeinem kommen? usw

Normalerweise ist das Schicksal eines Theorievortrags, dass er sich an Leute wendet, die sich nicht bewusst sind, wieviel Aufwand erforderlich ist, um das Gesamt ihrer Verhältnisse, in diesem Fall etwa Gesellschaftsverhältnisse, zu überblicken. Man hat es sich in der Vergangenheit einfach gemacht: Vieles, was wir wissen über Gesellschaft, vieles, was auch Kritiker vortragen, sind relativ holzschnittartige Bilder der Gesellschaft, und das erstreckt sich weit in den akademischen Bereich hinein. So dass man meinen könnte, die Vorstellung von dem, was man da aufwenden muss, nämlich gewissermassen eine inkorrekte Fassung durch eine korrekte zu ersetzen, kann doch nicht so aufwendig sein. Wenn man dann einer tatsächlich ernsthaften Bemühung begegnet, ist man sogleich konfrontiert mit diesem ungewohnten Anspruch, dem man sich dann erstmal stellen muss. Es kann gut sein, dass Zuhörer hier irgendwann mal aussteigen, und sagen: So hab ich mir das nicht vorgestellt, das wird zu anstrengend. Das könnte passieren.
Nachtrag bei Transkription: Es ist leider nicht, wie im Vortrag behauptet wurde, ein Problem der DARSTELLUNG – es ist das Problem der THEORIEBLDUNG selbst. Wenn jemand versucht auf höchst-möglichen Abstraktionsstufen (Begründungs-, Verständnis-)Zusammenhänge zu entdecken, kann er das nicht im einzelnen auf „Stimmigkeit“ (Angemessenheit) überprüfen. Das heisst, in gewissem Sinn sind die Entwürfe für allgemeingültige Zusammenhangs-Darstellungen hypothetisch, sie können fehlgehen, und sich bei „Anwendung“ also Konkretisierung als unzutreffend erweisen – der Zusammenhang existiert nicht oder aufgrund  verwirrend anderer als der explizierten Voraussetzungen (die ihn „erklären“ sollten). DAS könnte also AUCH passieren. Ende Nachtrag.

Unter diesem Vorbehalt sage ich jetzt erstmal etwas zur allgemeinen Übersicht:

1 Es geht – man könnte sagen immer – um den Zentralbegriff der Kooperation, der Art des arbeitsteiligen gesellschaftlichen Sich-Reproduzierens: sich reproduzieren auf gesellschaftlicher Stufenleiter. Gesellschaftlich heißt, ganz grob und einfach gesagt: Es stehen Leute in Verbindung, die sich nicht kennen, die nicht unmittelbar miteinander reden können, sich verständigen können, verabreden können – wie machen sie das dann, wie ist ihr Zusammenhang? Wir haben da einige bekannte Prozeduren und Arten des Zusammenhängens: den Markt, den Fernhandel gewissermaßen (damit hat das ja auch mal angefangen), wir haben den Staat, Gesetze, Wahlen, wir haben eine Öffentlichkeit, die hauptsächlich sich gestaltet seit den Zeiten des Buchdrucks, aber auch schon früher, dass ein Autor etwas von sich gibt, und das wird viele Male wiederholt. Viele hören es und stehen dadurch unter dem Einfluss ein- und derselben Gedankenwelt. Und das wird dann noch tradiert. Das sind also erste Arten, wie Menschen vergesellschaftet sein können. Insgesamt bleibt die Gesellschaft ihren Mitgliedern aber ein Rätsel, sie beherrschen ihren Zusammenhang bis heute nicht wirklich gut, und haben ihn an Mechanismen delegiert, die zwischen ihnen diesen Zusammenhang stiften sollen, an deren  Funktionieren sie mehr oder weniger glauben müssen, weil sie nichts Besseres haben. Wie das auf ein höheres Niveau als dieses grob mechanische gehoben werden kann, ist unklar.

2 Also Kooperation: da wollen wir vorläufig, grob die allerwichtigsten Bestimmungen festhalten. Da gibt es also erstmal ein arbeitsteiliges Sich-Reproduzieren, auch ein Fortschreiten, ein Entwickeln dieser Re-Produktion, dieses sich Erhaltens in einer Umgebung, einer großen Gruppe, einer ganzen Gesellschaft. Diese Reproduktion ist arbeitsteilig – das ist mal eine erste Bestimmung; sie ist nebenbei auch wissensteilig, also auch das Wissen, das irgendwo in dieser Gesellschaft vorhanden ist, ist aufgeteilt an verschiedene Mitglieder dieser Gesellschaft. Es kann im Prinzip, wie andre Güter, an andre weitergegeben, „vervielfältigt“, aufbewahrt werden – ob es von andern ebenso leicht aufgenommen werden kann, ist fraglich. Das macht also Probleme. Probleme – man könnte stattdessen auch sagen: „Aufgaben, die zu lösen sind“ – in Summe stellen sie dar die Aufgabe der Koordination ihrer arbeitsteiligen Bemühungen. Da geht es also auch um Prioritätensetzungen – welche Ressourcen wohin gelenkt werden. Wenn beliebig Ressourcen zur Verfügung stehen, macht das keine Probleme, aber wenn sie knapp sind, muss man sich einteilen, muss man fragen: was zuerst, von wem, wofür, für wen, was dann, in welcher Reihenfolge? Wie verteilt, mit welcher Intensität wird welche Aufgabe von wem zuerst bearbeitet? Mit andern Worten, es muss geplant gewirtschaftet werden. und ein Wort für den Vorgang, den geistigen Vorgang im Wesentlichen, der da geleistet werden muss, ist eben Koordination.

3 Die Art und Weise, wie man sich da aufstellt, kann nun Gegenstand verschiedener Meinungen sein. Die Meinungen können sich auch gegeneinander verhärten; wobei vielleicht garnicht immer das Allgemeine so sehr strittig ist, sondern einzelne stehen einfach auf dem Standpunkt „Ich will etwas. Ich möchte für mich etwas.“ Bereits zwei solche können ja schon hart aufeinandertreffen. Sie streiten sich, so dass man dann sagen kann: was sie am Ende des hoffentlich nicht ewigen Streits miteinander machen, ist im Konsens. Der Konsens kann auch so sein, dass er erzwungen ist. Es ist dann trotzdem so, dass der Streit fürs erste beendet ist, vielleicht mit einer Zwangslösung für einen, oder für beide, oder einem Kompromiss, dem sie noch gerade so eben zustimmen können. Wie auch immer, ich nenne das trotz allem Konsens, wenn der Streit und die Verständigung, oder auch die Auseinandersetzung beendet ist, und jetzt mal was getan wird – so wie befohlen, oder verabredet.

Es ist also eine weitere Bestimmung von Kooperation, dass das koordinierte Reproduzieren im Konsens stattfinden muss, und man auch über die Art der Koordination Konsens haben muss.

4 Jetzt kommt eine weitere, eine vierte Bestimmung hinzu – natürlich muss das Ganze in irgendeiner Weise tatsächlich auch noch sachgerecht sein. Es muss also in irgendeiner Weise auch unter Umständen komplexen Anforderungen genügen. Und das erinnert jetzt an die Wissensteilung, wenn die einen dies wissen, und die anderen jenes zu einer Aufgabenerfüllung – aber die Zusammenführung des Wissens nicht stattfindet, dann ist da ein Problem, das nicht einfach dadurch gelöst wird, dass man etwa sagt, koordinierend, da wird jeweils so und so viel Ressourcen in etwas (weitere Forschung etwa) gesteckt, weil man noch gar nicht weiß, was überhaupt sachgerecht zu tun (oder etwa weiter, mit welcher Priorität, zu erforschen) wäre.

So. Jetzt haben wir also vier maximal einfache Bestimmungen von Kooperation – moderner Kooperation, wie sie gegenwärtig weltweit stattfindet – ein sehr abstrakter Begriff; und trotzdem sind die vier Begriffe wahrscheinlich für alle gut zugänglich, die das hören, also nochmal:
Es ist arbeits- und wissensteilig auf Gesellschaftsebene zu produzieren, koordiniert, im Konsens und sachgerecht.     Das sind die Anforderungen, denen genügt werden muss, wenn man eine Produktion aufzieht von solcher Komplexität wie die moderne – die gegenwärtige.

5 Man muss sich jetzt nur diese vier Bestimmungen einmal vor Augen halten, um zu ahnen, wie eigentlich sich der moderne Gesellschaftsaufbau in seinen gröbsten Abteilungen, die aufeinander aufbauen (darum, weil er diesen Anforderungen, genügen musste) entwickelt haben muss. Auf die Weise, könnte man sagen, ergibt sich eine kurze Geschichte der Moderne. Die Moderne beginnt im europäischen Raum irgendwann etwa um 1700. Man kennt das mit der Aufklärung, man weiss, dass die Naturwissenschaft ab da begann, sich explosionsartig zu entfalten, die Technik begann sich zu entfalten – all das auf Grundlage der bereits eingerichteten weltweiten Handels- und Beherrschungszusammenhänge. Die sind schon ein bisschen älter, die sogenannte Megamaschine hatte da schon gut zwei/dreihundert Jahre Zeit zu wachsen. Das Kolonialsystem etwa war schon weitgehend eingerichtet. Und die Kenntnis von zahllosen Lebensformen und Produktionsverfahren war in Europa eingedrungen. Auch in anderen Weltteilen war man sich damals zumindest ansatzweise dessen bewusst, dass es da noch mehr gibt als die nächste Nachbarschaft. Dies Wissen von Lebensformen und Techniken ist eine der wesentlichen Voraussetzungen der MODernisierung, in Europa institutionalisiert etwa in der Enzyklopädie. (Übrigens nach chinesischem Vorbild. Dort hatten sie schon viel früher Enzyklopädien, in denen versucht wurde, das umfangreiche Wissen von Fachdisziplinen einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, die auf alle Gewerke und alle Fächer einer hochentwickelten Handwerksproduktion zugreifen wollte.) Das war also der Ausgangspunkt der modernen Technologie und auch der Wissenschaft – zusätzlich zu den zuvor schon aufverschiedenen gebieten erarbeiteten Wissens- und Könnens-Ständen.

6 Wir können uns also fragen: Wie ging das eigentlich los in Europa, wo sich die Moderne als erstes entwickelt hat? Dann stellen wir fest: im Rahmen von Institutionen wird das ausgebildet – ein Wort dafür ist „keimformartig“ -, die es erstmal tragen, nähren, unterstützen, und ihm Mittel zukommen lassen, die es gewissermaßen nicht aus sich selbst hätte erzeugen können. Und trotzdem kann man sagen, die Erfinder und Unternehmer, die die Moderne erstmal verkörpern, auch die Visionäre und die Wissenschaftler und die Experimentatoren (das sind ja teilweise Privatleute, die großenteils irgendwie in ihren Nebengebäuden, z.B. als Apotheker oder dergleichen, irgendwas zusammenkochen) – diese Leute haben ganz gewiss erstmal mit ihrer Vernetzung kein so großes Problem gehabt. Sie hatten da teilweise Journale, in denen sie was veröffentlicht haben, teilweise waren das Privatbeziehungen, Korrespondenzen usw., so dass das, was wir da jetzt an vier Bestimmungen der Kooperation genannt haben, in der Moderne anfangs überhaupt nicht in irgendeiner Weise hervorgetreten ist, sondern es waren Privatpersonen, die im Rahmen ihrer persönlichen Lebensführung, Lebenseinrichtung, Lebensentwürfen, etwas probiert haben, was durch die genannten Kommunikationsmittel an andere gelangt ist. Es gab auch Akademien und Fachgesellschaften, die sich außerhalb der traditionellen Universität gebildet hatten. Es gab teilweise bereits sich entwickelnde Fachzeitschriften, so dass die Kommunikation auf jeden Fall funktioniert hat. Es gab Erfinder, die zugreifen konnten auf Wissenschaften und wissenschaftliche Resultate. Es gab Unternehmer, die Erfindereinfälle umgesetzt haben. Es gab eine Öffentlichkeit, die siuch Visionen zur Fortsetzung und Steigerung dessen, was schon erreicht war, ausgedacht hat. All das hatte eigentlich keine allzugroßen Probleme mit seiner „Vergesellschaftung“ (gedruckt war etwas schnell). Die grossflächige, die grundlegende Vergesellschaftung gab es auf jeden Fall sowieso: frühneuzeitliche Staaten, eine etablierte Wirtschaft, die teilweise bereits das Niveau einer ganzen Nation erreicht hat. (Es wird etwa davon ausgegangen, dass in England wahrscheinlich etwa Mitte des 18. Jahrhunderst sowas wie ein nationaler Markt entstanden war. Das setzt ja voraus, dass es Transportwege gibt, dass man also z.B. Marktungleichgewichte, die irgendwo lokal entstehen, von woanders her ausgleichen konnte, alles überallhin transportieren konnte, auch der Fernhandel war also schon ziemlich entwickelt.)

7 All das sind Voraussetzungen. Der frühneuzeitliche Staat existierte als eine politische Instanz, die sehr stark marktregulierend wirkte, und wo die Aufgabe, die sich alsbald ergab, der Koordination, zum Problem wurde. Das Ganze hebt ja ab irgendwann in den Jahrzehnten nach 1800, spätestens in England, die frühindustrielle Entwicklung, oder eigentlich nicht mehr die früh- sondern sondern die industrielle Revolution, der Fortschritt fängt an zu galoppieren, es sind ununterbrochen innovative Errungenschaften zu verwerten. Dass das überhaupt geht, mit marktwirtschaftlichen Mitteln, war keine Selbstverständlichkeit, dass man etwa auch mit Fortschrittsoptionen handeln kann, dass es eine Entfaltung des Kredits gibt, die sich darauf bezieht, dass es davon feste und robuste Formen gibt, Aktiengesellschaften und so weiter, mit denen diese Fortschritte finanziert werden – das war alles keine Selbstverständlichkeit. Die Marktregulation, die Gestaltung von Wirtschaft durch den Staat, musste erstmal diese Sphäre freigeben. Das ist nicht reibungslos passiert, sondern war mit Kämpfen verbunden – mit Interessengegensätzen. Und das erste, was sich daran abzeichnete, waren dann auch die Klassen, die sich gebildet haben, große Klassen von Personen, klar auch von teilweise wenig Mitgliedern, Großgrundbesitz etwa, der Getreide auch für den Export produziert, Industrielle, die Schutzzölle brauchen. Und dann natürlich Lohnabhängige, die keine Existenz auf dem Land mehr hatten, wie noch ursprünglich, wo sie vielleicht Kartoffeln angebaut haben, in kleinen Gärtchen, und damit vielleicht über die Runden kamen, und dort im Verlagswesen Textilien produziert haben, mit Produktionsmitteln, die ihnen Kapitalisten in die Cottage-Wohnung gestellt hatten.

So etwa ging das los. Nach einigen Erfindungen, die ihre Arbeit überflüssig machten, haben sie sich dort nicht halten können, und sind in die Städte und die Slums verdrängt worden, als hilflose und extrem abhängige Billig-Arbeiter, denen man so ziemlich alles zumuten konnte. Das war aber nicht die ganze Bevölkerung, sondern ein wachsender Pool, eine, wie Marx es nannte, „Reservearmee“, die in den Städten vegetierte und auf Arbeit hoffte. Und die bekam sie ja dann im Lauf der Zeit auch.

8 Aus dem Grundbestand der vier zu lösenden Aufgaben, die ich genannt habe, also „Wie geht Arbeits- und Wissensteilung überhaupt?“, „Wie koordiniert man?“, „Wie stiftet man Konsens?“, „Wie sorgt man dafür, dass es sachgerecht ist?“, also vor dem Hintergrund dieser naturwüchsigen Vergesellschaftung der Aufgabenlösungen stellte sich nun, unter den Voraussetzungen der eingetretenen extremen Entwicklungsbeschleunigung, als erstes die Koordination als eigens zu lösende Aufgabe dar: Sie war problematisch – und sie wurde gelöst durch die Unternehmer-, Industriellen-, die Kapitalistenklasse, die sich neu herausbildete aus dem zuvor bestehenden Bestand an Bevölkerungsgruppen, und erkennbar diese Aufgabe übernahm. Dasselbe gilt es dann natürlich auch für die Lohnabhängigenklasse, die durch ihre arbeitsteilige Position außerhalb der landwirtschaftlichen Selbstversorgung (und sei sie noch so mickrig, mit Kartoffelgärten oder dergleichen) – in den Städten nicht mehr versorgt war, und daher in ständigen Lohn- und Klassenkämpfen um ihr schieres Überleben kämpfen musste. Von daher ergab sich also bereits eine ganz eigene neue Aufgabenstellung, in der sich die Frage „Wie sind Ressourcen zu verteilen? Und wie sind sie im Konsens zu verteilen?, selbst wenn das alles sachgerecht dem Fortschritt und der Verwertung von Wissenschaftsresultaten diente – sich als eine weitere Aufgabe darstellte, die sich nicht einfach von selber löste, sondern gesonderte Anstrengungen sowohl von Seiten der Konsensstiftung durch den jetzt liberal-bürgerlichen Klassenstaat, als auch von Seiten der Wirtschaft, der Koordinatoren, der Industriellen-Klasse, erforderte.

9 Nun ist bekannt, dass die Liberalen – was keineswegs selbstverständlich war – diese Aufgabe wesentlich dem Markt anvertrauen wollten: Die Aufgabenlösungen sollten sich ergeben durch das freie, nicht mehr regulierte Interagieren der Nachfrager und Anbieter (auch der zeitweisen Nutzung von Rohstoffquellen, Agrarflächen, Arbeitskraft und Kapital, also nicht bloß von Waren und Dienstleistungen), aber nachdem das Ganze schon ziemlich weit gediehen war, stellte sich heraus, dass es immer wieder krisenhaft endete, die Krisen wurden immer schlimmer. Höhepunkt war schliesslich die Krise von 1929; wobei sich auch schon vorher abgezeichnet hatte, dass der Markt eben seine Mängel hat.

10 Die frühneuzeitlichen Staaten hatten ebenso Mängel. Sie haben dazu geneigt, wie man weiß, ihre Gewaltmonopole nach innen wie nach außen einzusetzen, in Form militärischer Auseinandersetzungen: An der Grenze haben ihre Interessen nicht aufgehört – aber ihre Fürsorgepflichten gegenüber der nationalen Eigentümerschaft, der Nation, haben geendet gegenüber den Bewohnern „fremder“ Territorien. Die Nation hatte Interessen dort außen, traf da aber auf einen anderen Gewalthaber und eine andere Nation. Das führte erstmal zur bekannten imperialistischen, imperialen Konkurrenz der Nationen um Ressourcen, Absatzmärkte und Einflusssphären, beziehungsweise schlichtweg um die militärische Überlegenheit. Auch um die wird ja eigentlich gekämpft, also um die Frage: „ Wer ist dauerhaft überlegen?“, und die Stellung ist leider immer wieder anfechtbar.

11 Aus dem Versagen der Märkte haben sozialistische Kritiker Konsequenzen gezogen – als das passierte, standen sie gewissermaßen schon bereit. Allerdings waren sie gespalten in solche, die Märkte wieder stärker regulieren, aber bestehen lassen wollten, und solche, für die das Versagen des Marktes so beeindruckend war, dass sie ihn so nicht mehr bestehen lassen wollten, vielmehr musste ihrer Meinung nach der Staat den Markt übernehmen, genauer gesagt, die Lösung der Aufgaben, die manbisher dem Markt überlassen hatte. Es sind dann gleichzeitig diese zwei Modelle, das staatssozialistische und das sozialdemokratische, gestartet – das staatssozialistische bezeichnenderweise in Territorien, die nachholende Modernisierungen, vorzugsweise zu Rüstungszwecken, zur Selbstbehauptung neben faschistischen Raubstaaten, gegendie drohende Kolonialisierung und Versklavung, einzuleiten hatten. ((In einem gewissem Sinn sind ja auch die Meiji-Reformen in Japan von einem Staat unternommen worden, das hat sich übrigens später auch nochmal in Südkorea wiederholt, … dass also tatsächlich der Anstoß (das was Marx die ursprüngliche Akkumulation nannte) in spät sich modernisierenden Territorien dann doch sehr stark unter Schutz der nationalen Wirtschaft vor Weltmarktangeboten (also protektionistisch) und von staatlicher Ingangsetzung von elementaren Produktionszweigen bestimmt war – Stahl z.B.. Die Stahlproduktion in Südkorea ist ein Standardbeispiel, das da immer wieder genannt wird.))

12 Auch die Liberalen versuchten, sich von diesem Schlag zu erholen, und haben ihrerseits eine neuere und zeitgemäßere Version ihres staatsprogramms ausgearbeitet – eine die dem Staat auch eine gewisse Regulierungsfunktion zugestand, das waren dann die Ordo- und Neoliberalen. Und sukzessive haben diese Staatsprogramme, die das 20. Jahrhundert bestimmt haben, einander abgelöst. Die höchsten Ansprüche an den Staat verkörpert hat die staatssozialistische Konzeption, und sie hat auch als erste angesichts der Problemen, die sie hätte lösen sollen, aufgegeben. Die zweiten, die – beinah zeitgleich – aufgegeben haben (oder nicht weiterwussten, wie auch immer), waren die Sozialdemokraten. Übrig blieben die reorganisierten Neoliberalen, die seither gewissermaßen immerhin die Aufgabe international produktiver Produktion und Arbeitsteilung durch ihre Freihandelsordnung (nach aussen; ergänzt durch die Niedriglohnpolitik, Sozialabbau, Privatisierungen, Austerität usw nach innen) ansatzweise gelöst haben. Man könnte freilich genausogut sagen, sie haben das Problem in höhere Höhen vorgetrieben, und nur die Fallhöhe vergrössert…

13 Wir stehen also gegenwärtig an einer Schwelle, und damit ist jetzt die Betrachtung dieser Entwicklung bis zum aktuellen Stand fortgeschritten, wo nämlich die entwickelte moderne Produktivität, hoch arbeitsteilig, mit zentralisierten Betriebsstätten über alle Kontinente verstreut, vor dem Problem steht, dass sie eigentlich kaum noch durch Märkte zu organisieren ist – aber erst recht nicht durch staatliche Beaufsichtigung. Die staatliche Beaufsichtigung folgt einfach nicht nach, und da, wo sie gerade eben noch folgt, in großen Territorien, bei den Grossmächten und Bündnissen, genügt sie notwendig den Anforderungen, die man gewissermaßen national gewohnt war, an die Konsensfindung nicht mehr. Sie wird bürokratisch, teilweise nicht sachgerecht, sie bedient Einzelinteressen, integriert aber nicht mehr, die Daseinsfürsorge lässt nach, die Ansprüche daran, so dass man feststellen muss: Die Staaten, die sich dieser Aufgabe noch immer stellen, versagen zunehmend an dieser Aufgabe – der der internationalen Regulierung der längst transnationalen Produktionszusammenhänge. Sie beißen sich fest an der Internationalität ihrer Aufgabenstellungen, die nationalen Aufgaben werden darüber zunehmend vernachlässigt: nationale Wirtschaftsförderung, der Sozialstaat, nebenbei auch die Technikförderung – das waren in der Moderne wichtige Staatsaufgaben, in die hinein sich die klassischen Staatsaufgaben konkretisiert haben, im Zuge der Moderne und der modernen Staatsertüchtigung seit dem Ersten Weltkrieg. Und an diesen Aufgaben also versagen die Staaten zunehmend; weswegen auch die “Klassen“, die aus diesem Staatshandeln resultieren, zunehmend nicht mehr imstande sind, politische Vertreter zu finden, die in dem je vorausgesetzten Staatsprogramm ihre Interessen noch vertreten.

14 Grob gesagt haben sich in den Industriestaaten, die an der fortgeschrittenen Globalisierung beteiligt sind, drei Klassen herausgebildet, nämlich

  1. die Globalisierungsprofiteure (das sind heute wahrscheinlich bloß noch 20% der Bevölkerung);
  2. die Globalisierungsabhängigen – das sind solche, deren Marktposition wesentlich aus Einkommen bestritten wird, die von den Globalisierungsprofiteuren (dazu gehören auch gut verdienende Lohnabhängigen in den transnationalen Unternehmen) erwirtschaftet werden; Globalisierungsabhängige sind also solche, die profitieren von diesen Einkommen, und andererseits ihre Produktionsmittel auch aus dieser Sphäre der globalisierten Produktion beziehen. Das sind Handwerker, Dienstleister, freie Berufe, Gesundheitsarbeiter, Staatsangestellte usw… Sie arbeiten mit industriell erzeugten Produktionsmitteln – das ist alsoein Wirtschafts-Sektor, der abhängig ist von solchen Arbeitsmitteln, die transnational erzeugt werden.
  3. Schließlich die absichtlich hergestellten Niedriglohnsektoren und prekär Beschäftigten, die auch von diesem Weltmarkt mit ausgebeutet werden, die „Globalisierungsruinierten“, wenn man so will, die nichtdestotrotz ihren Beitrag dazu leisten, und die eigentlich einen Sozialstaat bräuchten, der ihnen aber zunehmend vorenthalten wird.

15 Die Globalisierungsprofiteure haben diesen fortgeschrittenen und globalisierungsorientierten Staat als eine Art herrschende Klasse getragen, sie müssen aber zunehmend  Standpunkte einnehmen bzw befüroworten, die sich mit einer reifen Staatlichkeit, wie man das im 20. Jh. ausgebildet gefunden hat, nicht mehr vertragen; einer bürgerlichen Staatlichkeit, muss man genauer sagen, einem Staat von Privateigentümern, von Menschen, die auf dem Standpunkt stehen, dass sie mit dem, was sie haben, ein Einkommen erzielen wollen, in einem Verbund mit anderen, um den sie sich zugleich nicht weiter kümmern wollen, sondern der mehr oder weniger Apparate- oder Mechanik-Charakter hat. Die Globalisierungsprofiteure, „die staatstragenden Schichten“, „die herrschende Klasse“ gewissermaßen, ist tatsächlich insofern nicht mehr staats- und politikfähig, als auch sie an den Aufgaben – selbst bei nachlassenden Ansprüchen an Sozialstaatlichkeit, an nationale Wirtschaftsorientierung usw – immer stärker scheitert und sich zunehmend überfordert zeigt. Es gibt übrigens noch eine weitere Aufgabe, Technikförderung, Wissenschaftsförderung: auch da, wo sich also die Sachgerechtheit allererst herstellen soll, ergeben sich Defizite. Und allein schon die Aufgabe der Aushandlung von konsensfähigen Mechaniken, Prozeduren, hat ein Niveau erreicht, wo im Grunde genommen die wenigsten Teilnehmer, Mitglieder der betreffenden, der involvierten Bevölkerung, noch folgen können.

16 Man kann sagen, die Aushandlung der Art einer Weltordnung, der Kampf um sie, ist heutzutage praktisch nur noch Regierungsangelegenheit. Wir sehen, dass Regierungen gegeneinander antreten, oder sogar bloss noch Regierungsabteilungen, die völlig abgehoben agieren, und denen ihre Bevölkerungen nur noch in Teilen folgen, mit Gesichtspunkten, die wiederum diesem Kampf gar nicht gemäß sind; nämlich nationalen. Also z.B. die russische Bevölkerung, genauer, der Bevölkerungsteil, der Anteil nimmt an dem Kampf gegen die Nato, hat nationale Gesichtspunkte, während die Regierung selbst, Putin und so weiter, einen völlig abgehobenen Weltordnungsstandpunkt einnehmen, zusammen mit anderen Regierungen, bei denen es sich ähnlich verhält, also auch die Iraner, die iranische Bevölkerung sieht zumindest in Teilen nicht mehr ein, warum sie für eine solche Auseinandersetzung überhaupt Opfer erbringen soll. Soweit die Staaten bzw. die Regierungen noch Projekte verfolgen, sind die zugleich nicht integriert, defizient, abgehoben von ihren Bevölkerungen, ihren Nationen, und das geht natürlich nicht mehr lange gut. Also das ist ein Zustand, der anfällig ist dafür, in eine Vorform, die mal erreicht war, zurückzufallen; die aber zugleich mit dem Widerspruch konfrontiert ist, dass dann natürlich die Produktivität, wie man sie mittlerweile kannte und gewohnt war, nicht mehr aufrecht zu erhalten ist.

17 Und dabei bleibt es nicht, sondern die Problemkaskade, die sich ab da entfaltet, ist absehbar. Wenn wir tatsächlich in irgendeiner Weise auch nur die Idee verfolgen einer weltweiten Gleichverteilung von Lebens-, Arbeits- und Produktionschancen , dann sehen wir sofort: die Ressourcen müssen politisch verwaltet werden. Zu den Ressourcen gehört auch die intakte biologische Grundlage unserer gesamten Existenz, die uns weitere Restriktionen auferlegt. Das muss, oder müsste, sorgfältigst geplant werden. Wenn aber alles mit allem zusammenhängt – sind wir dann nicht wieder bei der Arbeitsteilung, in verschärfter Form, angelangt? Wie soll denn die, wie erforderlich, sorgfältige Planung noch organisiert werden in einer hierarchischen Vergesellschaftung, wo Konsensfindung abgelöst ist und gegenübertritt den Instanzen der Koordination, und die wiederum gegenübertreten den eigentlich technischen Anforderungen? Man glaubt sich eine solche vertikale Aufspaltung des Entscheidens und des Wissensverwaltens leisten zu können. Dass das nicht geht, hat dramatisch die Corona-Episode, die Pandemie gezeigt, weltweit. Sie zeigt sich eigentlich im Grunde genommen auch in der Auseinandersetzung der Staaten selbst, wo es auch um Wissen geht, um Wissen um die Andern, wo man sich fragen kann: Wer hat dieses Wissen, dieses geopolitische Wissen eigentlich noch, derart dass da sachgerechte Entscheidungen getroffen werden? Stattdessen hat man immerzu den Eindruck, alle Beteiligten stolpern in Situationen hinein, die sie so nicht vorhergesehen haben – weil sie eben auch nicht genug gewusst haben über die je andere Seite; oder überhaupt die Umstände, in denen sie antreten.

18 Man könnte jetzt, angesichts dieses um sich greifenden Staatsversagens, die Frage stellen, ob nicht ein Vorgang wie vor 100 Jahren sich wiederholen könnte – nämlich dass eine gesellschaftliche Instanz bereitsteht, die es schon gibt, so wie damals den Staat, die sich fähig machen könnte, das Marktversagen aufzuhalten, also den Staat in einer solchen Weise zu unterstützen, wie seinerzeit der sozialdemokratische Staat des New Deal die Wirtschaft gestützt hat, oder die Aufgabe der Koordination gleich selbst übernimmt, wie seinerzeit die Staatssozialisten. Ein Kandidat für diese Rolle wäre das, was man „Zivilgesellschaft“ genannt hat. Das ist gewissermaßen das Substrat an Normen, Überzeugungen, Lebensstilen usw., was eine Gesellschaft vor aller noch auszuhandelnden Konsensfindung zusammenhält. Früher waren das vielleicht mal irgendwelche Nationalkulturen, heute hat sich das ein bisschen rationalisiert. Da ist es vielleicht so was wie der Kosmopolitismus der Globalisierungsprofiteure mit all seinen Facetten, Lifestyles und Positionen, auch eine Moral etwa ist ganz wesentlich (bei ihnen: die Inklusionsmoral, die aber die Eigentumsverhältnisse als quasi vor- und ausser-moralisch ausklammert), also Normen; Normen auch dessen, was als rational angesehen wird. Das könnte z.B. heute so etwas sein wie „der Glaube an die Wissenschaft“, das, was gegen die Kritiker der Pandemiemaßnahmen eingeklagt wird: man hat an die Wissenschaft zu glauben. Das wäre so ein Grundkonsens, aus dem überhaupt erst alles andere abzuleiten ist.

19 Von dieser zivilgesellschaftlichen, und hoffentlich die ganze Gesellschaft übergreifenden, dazu bestimmten Menge an Überzeugungen und Normen wurde gesagt, bzw dieses Übergreifen und Gelten für alle und Geteiltwerden von allen wurde so ausgedrückt, dass sie „hegemonial“ sind, also tatsächlich alle Gesellschafts-Mitglieder einbeziehen, und von ihnen anerkannt werden, somit alle Klassengegensätze hinter sich lassen. Diese Normen und Überzeugungen also sollen nun heute tatsächlich sachgerecht sein, und mit ihrer Hilfe sollen Lösungen gefunden werden für die Probleme, die die Staaten nicht finden. Eine weltweite hochproduktive Produktion soll verwaltet werden, koordiniert, im Konsens, und noch sachgerecht. Man muss das nur aussprechen, um zu wissen, dass auch – oder erst recht – die durch Normen und deren Anerkennung konstituierte Zivilgesellschaft mit diesem hohen Anspruch komplett überfordert ist.

20 Was sind die Gründe der Überfordertheit? Da könnte man nun sehr einfach sagen: Schon die Koordination misslingt, weil die zu lösenden Koordinationsaufgaben viel zu komplex sind. Die Produktionszusammenhänge, die Lieferketten, einmal eingerichtet, können zwar vielleicht funktionieren, sind aber hochanfällig für Störungen aller Art, die sich dann fortsetzen (erst recht, wenn Produktionsweisen ständig „umgewälzt“ werden). Die Investitionsentscheidungen sind abhängig gemacht von Kenntnismassen, die kaum noch zu überblicken sind, und einen zurückwerfen in rohe, vormoderne, voraufgeklärte Expertenhörigkeit und -gläubigkeit, man soll einfach an Autoritäten glauben. Es ist nicht mehr rational nachvollziehbar, warum eine Entscheidung getroffen werden soll, so oder anders, zB im bezug auf Energie – gerade in Bezug auf technisch komplexe Fragestellungen, aber auch wissenschaftlich komplexe, wie den Klimawandel. Angesichts der Vielfalt an Gesichtspunkten, unter denen jemand ein Interesse ausbilden kann nicht nur, sondern auch der Meinungen die da sind, der Interessenlagen, die verworren sind, also angesichts der überbordenden Diversität ist Konsensfindung kaum noch möglich. Diversität ist hier das Stichwort, Komplexität bei der Koordination Und bei der Sachgerechtheit können wir auch noch etwas feststellen, was überfordert, ich habe es gerade schon angedeutet, nämlich: die Wissenschaft ebenso wie die Technologie werden vorangetrieben in Bereiche, die nicht mehr leicht überschaubar sind. Bei der Wissenschaft ist es so, dass sie mit den erarbeiteten Grundprinzipien aus Chemie und Physik losgeht auf Systembereiche der Wirklichkeit – Geophysik und Biologie sind die Stichworte; unter Biologie ist auch zu fassen das Agrarwesen, die Agrarwissenschaft, die Medizin, die Umweltwissenschaft. Geophysik, auf der anderen Seite, enthält natürlich auch Meteorologie, Klimawissenschaft und noch viel anderes. Diese Systemwissenschaften haben einige Eigentümlichkeiten, die sie von den Verhältnissen in Physik und Chemie unterscheiden:

21 Zunächst einmal zerfallen ihre Gegenstände in unzählige Einzelaspekte, wenn man sie analysieren will, muss man all diesen Aspekten nachgehen. Auch die Wissenschaften zerfallen darum in zahllose Unterdisziplinen, die das zu leisten versuchen. Die Aspekte aus diesem Systemzusammenhang herauszulösen ist aufwendig, deswegen sind schon die Einzelerkenntnisse sehr schwer zu gewinnen, bei den Herauslöseoperationen müssen exotische, abgelegene Dinge untersucht werden, Eisbohrkerne, solche Dinge, d.h. solche Einzelstudien sind schon sehr teuer, sie sind ausgebreitet, die Gegenstände sind groß (der Weltzusammenhang des Klimas, der Meeresströmungen, der Vulkantätigkeit usw.), gleichzeitig sind sie gerade darum nicht oder kaum zu beeinflussen; oder sie sind extrem klein und schwer erreichbar; oder in einer unbeherrschbaren Vielfalt vorhanden: Wenn man sagt, 10.000 Arten allein an Mikroorganismen bevölkern den Boden unter einem Quadratmeter der Oberfläche – dann hat man zu tun. Also extrem komplex, extrem klein, extrem verdichtet komplex und extrem groß ausgebreitet: alles kommt zusammen. Das macht diese Analysen schon mal teuer (darum die frühe Beteiligung von interessierten (Drittmittel-)Geldgebern). Sofern es sich überhaupt um analytische Verfahren handelt. Die Ergebnisse der Studien der Einzeldisziplinen müssten aber jetzt erstmal unter leitenden Fragestellungen wieder zusammengefasst werden: die Einzelfunktionen, die so analysiert sind, arbeiten normalerweise im System zusammen. Diese Zusammenführung ist aber gegenwärtig in der Wissenschaftsorganisation so gut wie nicht umgesetzt, oder nicht in ihr selbst.

22 Das Zusammenführen wird vielmehr von aussen, bei Bedarf, in speziellen Fällen, herbeigeführt, durch Sponsoren, die etwa Wissenschaften wie die Virologie oder die Klimawissenschaft als vermeintliche Universalerklärer bevorzugen, und genau in dieser Funktion dann auch fördern. Was dann in den Wissenschaften dieser Art eine eigene Tradition bildet, so dass die sich, spätestens nach zwei Forscher-Generationen, gar nicht mehr von aussen sehen und nicht mehr reflektieren, was sie sich da zurechtgelegt haben an vereinfachten Bildern ihres Gegenstands, die haben sie meist irgendwann mal aufgenommen aus benachbarten Einzelwissenschaften, und passend zurechtgemacht, um pragmatisch arbeiten zu können, etwa „alles, was mit Viren zusammenhängt“, mit Vireninfekten, hat die Virologie sich dann gewissermaßen in Schmalspurmanier zurechtgelegt. Das wird aber mit Epidemiologie, Labormedizin, Infektiologie, Immunologie und den klinischen Fächern nicht mehr abgestimmt – oder nur noch ganz am Rande. – Genauso höchstwahrscheinlich bei der Klimawissenschaft und bei vielleicht noch anderen, die von Belang sind, weil es daran ein gesteigertes gesellschaftliches Interesse (d.h. entsprechende Fördermittel) gibt (kommerziell, militärisch…). Da kann man auch gleich schon sehen, dass sich in dieser vertikalen Organisation etwas abzeichnet wie eine Stufenreihe nach „oben“ abnehmender Wissenskompetenz – Wissen wird immer mehr vereinfacht und verwässert, laienhaft gewissermaßen substituiert durch plausible Meinungen – bei zunehmender Entscheidungsbefugnis. Das Wissen DER Wissenschaft, also das aus den vielen tatsächlich absolvierten Studien, kommt somit weiter oben garnicht mehr an, ausser in dieser verwässerten, vereinfachten Form.(Die genannte Stufenreihe dürfte sich nicht nur in staatlichen, sondern auch in inner-betrieblichen Organisationen finden…)

23 Ähnliche Vereinfachungs-Tendenzen zeigen sich aber auch in umgekehrter Richtung: Dasselbe gilt also auch für die Entscheidungsbefugnisse, das heisst, es treten Instanzen zwischen Regierung und Wissenschaften wie die Pandemieübungsszene, die Erkenntnisse nur noch unter Handlungsgesichtspunkten („technokratisch“) mobilisieren; gleichzeitig aber der Komplexität der Ansprüche etwa an ein Regierungshandeln auch nicht ausgesetzt sind. Diese Instanzen sind ausschliesslich fixiert auf ihre Problemlösungen, wie z.B. „eine Pandemie (oder einen Biowaffenangriff) bewältigen“. Und was da alles beiherspielt, all die Rücksichtnahmen auf Wirtschaft, Verwaltung, Öffentlichkeit und die Leute, die das machen sollen, Gesichtspunkte, die eine funktionale Regierung in ihren Entscheidungen beachtet – all diese Rücksichten nehmen diese Instanzen nicht, und müssen sie auch nicht nehmen; weswegen sich alles auch immer so schrecklich effizient ausnimmt, was solche Gruppen ausarbeiten; und dann keinen Bestand hat, wenn es, als „Expertenrat“ tatsächlich ins Regierungshandeln einfach 1:1 übersetzt werden soll.

24 In etwas verwandelter Gestalt begegnet dieser Vorgang wieder, da wo es um technische Systeme geht – die Einrichtung von komplexen technischen Gebilden. Das könnte etwa ein Atomkraftwerk sein, erst recht die gesamte Energieinfrastruktur einer Gross-Region oder eines ganzen Landes; Systeme dieser Art sind irgendwann mal durchaus ähnlich komplex wie die zu untersuchenden systemischen Wirklichkeitsbereiche (geophysikalisch, biologisch), es geht jedenfalls in die Richtung. So dass man also sagen kann: Von dort ausgehend konvergiert da auch etwas aufseiten der Probleme. Es gibt auch da die typischen Systemeigenschaften, das System hat eine Eigengesetzlichkeit, die nicht mehr ohne Weiteres ganz durchschaut werden kann, der man aber genügen muss, wenn man das System nicht zerstören will. Das System hat mehr oder weniger durch diese Eigengesetzlichkeit die Eigenschaft, sich zu erhalten, in bestimmten Umgebungen, an die stellt es aber Anforderungen, sowohl seines Systemerhalts, als auch seines ungestörten Funktionierens; das ist nicht mit allen System-Umgebungen vereinbar; all das müssen natürlich diejenigen, die das System handhaben wollen, beeinflussen und kontrollieren wollen, beachten. Das heißt, die Systemeigenschaften müssen eigentlich getrennt von diesen Analysen gekannt sein – das Systemverhalten auf einer Ebene, die analytisch nicht ganz eingeholt werden kann. Da sind Restriktionen zu beachten, die sich  aus dieser Störanfälligkeit und diesen Erhaltungsbedingungen ergeben, auf die wir dann wiederum keinen Einfluss haben. Das gilt für hochtechnische Systeme in gleicher Weise wie für die vorfindlichen Natursysteme.

25 Die Versuche, da kontrollierend einzugreifen, enden schon an der mangelnden Vorhersehbarkeit des Systemverhaltens, weil wir die System-Eigenschaften eben doch nicht zur Gänze kennen, sondern meistens aus Vergangenheit extrapolieren, oder aus Versuchsreihen, in denen wir dann irgendwie mit Störvariablen versucht haben auf das System einzuwirken um zu sehen, wie es reagiert; und die Gefahr der Zerstörung des Systems, dass wir es dann doch zerstören, weil wir seine Eigengesetzlichkeit nicht beachtet haben, ist dabei relativ gross. Es spielt dann eine grosse Rolle, dass wir diese Systemverhaltensweisen modellieren, mit Verhaltensweisen des Systems abgleichen, die es in der Vergangenheit tatsächlich gezeigt hat, das gilt für die Natursysteme (zB in der Medizin, oder der Agrarwissenschaft); oder wir modellieren mögliche Verlaufsformen, indem wir die relevanten Systemparameter, soweit wir sie kennen, in rechenbare Form übertragen, und dann solche Verläufe durchspielen bei den technischen Systemen, und sie simulieren. Und daraus ergeben sich in beiden Fällen Prognosen, was passiert, wenn wir was tun und eingreifen, oder auch wenn wir nichts tun, wie sich das System da jeweils weiter entwickelt angesichts bestimmter Einwirk-Parameter – das heisst, die verwertbaren Erkenntnisse solcher Wissenschaften haben nicht die Form, die sie in den genuin technischen Naturwissenschaften, Physik und Chemie, haben, da ist es nämlich so, dass wir dann Entitäten aus Elementen bauen, Geräte, oder auch Materien erzeugen, usw die von Nutzern übernommen werden können, die nicht wissen, wie das Ding an sich funktioniert, aber eine indirekte Prüfchance haben durch die Art der Nutzung – sie sehen, das System funktioniert dauerhaft und so wie versprochen, es ist zu warten vielleicht, es funktioniert nicht in allen Umgebungen, das muss man beachten, schon bei Autos, alle anspruchsvolleren Geräte weisen all diese Eigenschaften auf, die man beachten muss als Benutzer. Aber man muss nach wie vor kein detaillieres Wissen haben über das Ding selbst, und man kann sogar Virtuose sein ohne zu wissen wie es funktioniert, Rennfahrer, Musiker – allenfall muss man die nutzungs-relevanten Eigenschaften kennen, die schon; aber eben nicht den Aufbau des Ganzen aus seinen Elementen.

26 Das ist völlig anders bei diesen System-Wissenschaften, und auch den technischen System-Wissenschaften, die Prognosen liefern über Handlungskonsequenzen: Was geschieht, wenn wir was unterlassen oder weiter so handeln wie bisher? Natürlich können wir es nicht darauf ankommen lassen, dass wir eine Prognose versuchsweise nicht nutzen, – vor allem, wenn sie aus einer Gefahr-Drohung besteht, einer Risikoprognose, und einer Prognose, die nahelegt, was dagegen zu unternehmen wäre, die treten ja normalerweie gekoppelt auf. Das heisst, hier ist in ganz anderer Weise nötig, sich die Struktur der Argumentation dann doch erklären zu lassen, wenn man sich darauf verlassen können will, und das ist dann irgendwann uferlos – man läuft Gefahr, den von Sponsoren gepäppelten Universalerklärern in die Hände zu fallen und von ihnen im Brustton der Überzeugung vorgetragene Erklärungen annehmen zu sollen, die aber von Einzelwissenschaftlern bestritten werden. Genau das hat man exemplarisch an dem Verlauf der Pandemiebehandlung sehen können.

27 Sachgerechtheit ist also heute nicht mehr so einfach zu haben wie in Zeiten, als man neue technische Geräte einfach anwenden konnte, und selbst da war ja mancherlei Gefahr mit der Benutzung verbunden, spätestens auch indirekte Auswirkungen, wenn das ganze hochskaliert wurde und sich ausdehnte, und Umweltfolgen oder ungeahnte Gesundheitsfolgen hatte – die Interaktion der Geräte mit der biologischen und System-Umgebung war ja immer schon ein Problembereich, der mit Technik allein nicht zu bewältigen war. Und jetzt kommt das also noch viel dicker, jetzt wenden wir uns diesen Bereichen zu, wir wollen sie technisch beherrschen und können das nicht.

28 Die Bereiche: dieses Technische und das ihm gegenstehende Eigengesetzlich-naturhafte, Systemische, begegnet in Wirklichkeit bereits in der Entwicklung, die wir betrachtet haben, es begegnet als Konflikt zwischen der Anpassung der Gesellschaft, des gesellschaftlichen Handelns an die Anforderungen der technischen Entwicklung, und der Forderung, dass sie dabei gleichzeitig sich nicht zu vernachlässigen hat, dass sie ihre Reproduktionsbedingungen, ihre systemischen, erhalten muss, sich selbst erhalten muss, klassisch: der Arbeiter muss sich selbst erhalten, seine Reproduktionsanforderungen stehen im Widerspruch zu der Geschwindigkeit, Beschleunigtheit des technischen Fortschritts, der ihm die Ressourcen der Reproduktion entzieht und auf sich lenkt, der Arbeiter soll sich verschleissen, beschleunigt abtreten und einem tüchtigen Nachfolger Platz machen, der muss auch schon erstmal aufgezogen und ausgebildet sein, sodass man sagen kann: Diese Reproduktionsanforderung, diese systemische Reproduktions-Anforderung tritt unmittelbar in ein Verhältnis zu den Arbeitsmitteln, deren Entwicklung wir ununterbrochen vorantreiben, und zwar auf dem je erreichten technologischen Stand, dh die Mittel, die wir erarbeitet haben sind Grundlage für die Erarbeitung weiterer Mittel, und das soll immer so weitergehen, bis wir schliesslich dahin kommen Mittel zu haben – und da schliesst sich dann der Kreis – die systemische Grundlage unserer Existenz, die Reproduktonsbedingungen für unsere Arbeitsfähigkeit selbst zum Gegenstand technischer Einwirkungen zu machen, und wo wir da landen, das hat ja die Betrachtung gerade eben gezeigt, also ob das überhaupt wissenschaftlich zu durchleuchten und erfassen ist, selbst mit KI, ist sehr die Frage. Diejenigen jedenfalls, die uns hier eine technische Utopie, eine Ersetzbarkeit der systemischen Grundlage ausmalen, Transhumanisten, haben da irgendwie die Rechnung ohne den Wirt gemacht – sie haben diese Eigengesetzlichkeit überhaupt nicht mitbedacht, das Sich-Erhalten-Müssen; sie denken dabei eigentlich hauptsächlich an Leistung, an das, was eine „Intelligenz“ (als technisches Werkzeug) leisten kann und soll, aber dass sie diese Leistung vor allem erbringt mit Blick auf diese Selbsterhaltung, haben sie nicht mitbedacht. Man fragt sich, was soll diese KI eigentlich TUN, was soll sie eigentlich können für wen, für welche Ziele – WIR tragen unsere Ziele irgendwie in uns, WIR wollen uns erhalten, WIR wollen unsere Bedürfnisse befriedigen, aber die KI – was soll sie tun und dafür können?

29 Das Unbestimmte des technischen Könnens setzt sich somit in die Unbestimmtheit dieser Intelligenz fort, wenn man sich fragt: Gut – dann ist sie eben unbestimmt, dann soll sie sich doch ihre Aufgaben selbst suchen, aber dabei soll sie sich auch erhalten, und dann sieht man gähnende Leere, denn die Automaten, die da geschaffen werden sollen, die sind immer schon da, die Hardware ist immer schon da, wird immer schon produziert von ihren Menschensklaven, und die müssen natürlich weiterexistieren, denn die Automaten müssten natürlich erstmal sich eine materielle Grundlage ihrer Reproduktion verschaffen, wenn sie nicht ewig überdauernd sind, und womöglich evolutionäres Anpassungspotential haben – alles Eigenschaften, die die lebendige, die Biosphäre längst ausgebildet hat, auf Kohlenstoffbasis – ob die andern mit ihren mineralischen Grundlagen soweit kommen, ist dann erstmal noch die Frage – es hat ja vielleicht seinen Grund, dass ein solches Gebilde wie die Biosphäre auf einer Kohlenstoffbasis aufbaut, und ob wir eine zweite Biosphäre auf demselben Planeten haben können, ist ebenfalls sehr fraglich. All solche Dinge haben die Transhumanisten einfach nicht bedacht – es ist eindrücklich, dass ihnen dieser ganze Bereich derart fremd ist, dass sie dieses technische Denken, dieses Mittel-bezogene und, dass da ein Leistungsspektrum ausgeweitet wird, und ein Könnensspektrum – dass sie das einfach weiter verfolgen und diesen Zweckcharakter garnicht als eine Dimension von Intelligenz erkannt haben.

30 Jetzt zurück zur Frage der Vergesellschaftung. Der Gegensatz, an dem man sich seit Beginn der Moderne abarbeitet, der Zielkonflikt, wenn man so will, zwischen dem Selbsterhalt, dem immer besseren Sich-Reproduzieren-KÖNNEN, und der Entwicklung der Mittel dieses Könnens – dieser Hase- und-Igel-Wettlauf – er hat ja tatsächlich in die Klassenkämpfe geführt, die Klasse der Arbeiter, der ReProduzenten tritt denen gegenüber, die ständig auf die Mittelentwicklung drängen, Ressourcen darauf verwenden wollen, und auch die Entscheidungsbefugnis darüber haben. Die andern machen dann geltend: Wir sind aber auch noch da, wir wollen auch noch leben, und müssen das auch, um leistungsfähig zu sein – das wurde ja dann als Sozialstaats-Anforderung vom reifen bürgerlichen Staat anerkannt und in guten Zeiten berücksichtigt, in schlechten (Krisen-, Kriegszeiten) weniger… Der Konflikt ist freilich nicht wirklich zufriedenstellend gelöst, und er wiederholt sich auf höherer Ebene – schliesslich bei der Frage, es ist nicht nur eine der Konsensfindung, aber da bricht er jetzt vollends auf: Wie soll man entscheiden, wie die Ressourcen verteilen? Der Konflikt wiederholt sich sogar auf der epistemischen und Produktions-Ebene, in Gestalt der Frage: In welchem Ausmass können wir uns überhaupt vorstellen, in diese Systembereiche der Wirklichkeit, sei es der geplanten und von uns noch herzustellenden, sei es der vorfindlichen, einzudringen?

31 Dieses Verhältnis ist völlig ungeklärt; und man kann sagen, es wiederholt sich obendrein in einem gewissen Sinn der Klassenkampf nicht nur auf der nationalen Ebene, sondern auf der internationalen, wo es um Moral geht, also um die „zivilgesellschaftlche“ Fundierung des politischen Handelns. In den nationalen Gesellschaften, die nicht den fortgeschrittensten Industrienationen angehören, sondern den aufsteigenden, aufstrebenden, aufschliessenden, gibt es nach wie vor diesen Anspruch, wir auch, wir wollen auch vom Ressourcenkuchen abhaben, und die andern sagen, es ist aber schon genug geregelt, ihr könnt warten, dass was für euch abfällt, wenn der Fortschritt weit genug gediehen ist – das sind die Unipolaren, die Exceptional Nation, die unentbehrliche, indispensable, mit ihren Vasallen, die praktisch diesen Ressourcen-Zugang monopolisieren wollen für die Erfolgreichen in der Konkurrenz – das ist ja durch die globalisierte Produktion inzwischen nach überallhin ausgelagert, sie wollen es eben durch die Konkurrenz bestimmt haben, in der sie nun allerdings auch tatsächlich den entscheidenden Vorsprung haben, die andern machen da einen Vorbehalt und sagen, erst die Konkurrenzposition unserer Nation entscheidend verbessern, und damit zugleich die aller Nationen, sie fordern das heraus, und das ist ja nun im Kern die beginnende Auseinandersetzung zwischen Uni- und Multipolarität, der ja die nationalen Gesellschaften schon kaum noch folgen können und die sie nicht begreifen.

32 Sobald, so sage ich, dieser moralische Konflikt entschieden ist, zugunsten der Multipolarität, das ist ja, wenn nicht eine Atomkatastrophe stattfindet, das Schicksal dieser Auseinandersetzung – da muss sie irgendwann enden – genau dann wird sich die Problemkaskade in Gang setzen, die ich vorhin skizziert habe: Gleichverteilung von Lebens- und Produktionschancen weltweit setzt eine rabiate politische Ressourcenbewirtschaftung voraus, einen Konsens, wie er in dieser Breite kaum vorstellbar ist, aber auch eine Sachgerechtheit, wie sie kaum erreichbar ist unter den gegenwärtigen Ausmassen an Komplexität und Diversität und Undurchdringlichkeit der Systembereiche der Wirklichkeit. Das Entscheidungsniveau, das da erreicht werden müsste, setzt eine komplett egalitäre, hierarchiefreie, kollektive Praxis voraus des Findens von Entscheidungen, eine Durcharbeitung des vorhandenen Wissens, wie man es auf der staatlichen Ebene und auf der Ebene von Märkten einfach nicht vorfindet – dh im Grunde genommen, das was an Entscheidungsfindung an die mechanischen Prozeduren der Märkte Staaten Öffentlichkeit, der autoritären Wissenschaft delegiert wurde, muss eingeholt und zurückgeholt werden in die Verfügung der tatsächlich sich miteinander verständigenden Produzenten-Bevölkerungen – das allein ist bereits eine Epochenaufgabe, bei der wir uns kaum vorstellen können, wie wir sie lösen sollen. Die Lösung hat offensichtlich noch andere Voraussetzungen, über die garnicht gesprochen wird, nämlich: Wie sollen eigentlich die Leute leben, die sich solch einer Aufgabe stellen sollen – was für eine Gruppe der Bevölkerung kann überhaupt diesen Prozess einleiten, wenn er denn je keimformhaft sich langsam in die verfallende MODerne Gesellschaft hinein ausbreiten soll?

Damit möchte ich heute erstmal schliessen. Das war jetzt die erste Übersicht, und damit ist ein Themenfeld überhaupt erstmal aufgemacht, bei dem man sich vermutlich all den fehlenden Einzelgegenständen viel ausführlicher zuwenden muss, als es jetzt geschehen ist. Vermutlich. Da müssen wir mal sehen, wie wir das in den nächsten Vorträgen organisieren.