Als Ergänzung zum Kommentar von franziska bei keimform.de vom 12.10.2017 15:02

Kommentar: Notizen zur Veränderung der Gesellschaftsform

Mein Kommentar zu Simon kann zwar für sich stehen und genügt fürs erste als Antwort. Ich würde aber im Zusammenhang damit gern einige Anmerkungen machen mit Blick auf einige ökonomische Meinungen, die mir bei keimform-BeiträgerInnen, aber auch vielen anderen Linken begegnen:

1. Es wird ausdrücklich NICHT Konsum oder irgendetwas darauf bezügliches als dauerhaft realisierter „Zweck“/Effekt der kap.Produktionsweise bezeichnet; vielmehr folgt aus dem Gesagten, dass sowohl jede Luxuskonsumtion incl. derjenigen des Staats (vor allem auch wohlfahrtsstaatliche Rückverteilungen) als erst recht diejenige der Lohnabhängigen die für Produktivitätserhöhung und quantitative Erweiterung der laufenden Produktion verausgabbaren Raten und Massen an Mehrprodukt/-wert beschränkt.
Die auch bei Marx in seinen frühen Entwicklungs-Phasen vorfindliche (und von Links-Keynesianern wieder aufgegriffene) Denkfigur, dass durch Beschneidung des Arbeiterkonsums sich die Kapitalisten ihres eigenen Absatzes berauben würden, hat nach dem Gesagten keinerlei Grundlage. Strukturelle Umlagerungen (und krisenhafte Anpassungsprozesse) mag es hier geben, aber keinerlei dauerhaft wirksames „Gesetz“ für eine Selbstbegrenzung der kap. Akkumulation.

2. Dieser Hinweis ist umso wichtiger, weil viele im weitesten Sinne ökonomische Anschauungen (etwa bzgl der Vermittlungsleistungen von Geld) bei keimform wie anderswo dazu neigen, die gesamte kap. Wirtschaft aufzufassen wie eine riesige Masse von Privatleuten (oder „Haushalten“), die reihum einer riesigen black box namens Markt/Produktionsmittelapparat gegenübersitzen, irgendeine Leistung abliefern, und „dafür“ was rausbekommen (Einkommen, und was man sich dafür kaufen kann), dazu noch ein paar steuerfinanzierte Infrastruktur-Commons nutzen (Verkehr, Bildung, Sicherheit ua), und ansonsten mit der ganzen Maschine, von der sie leben, nichts zu tun haben. Viele Commonismus-Entwürfe tun anschliessend so, als würde sich ausgerechnet DAS „dann“ nicht wesentlich ändern. Die Auffassung ist vor wie nach dem Übergang verkehrt: Geld (Kapital) vermittelt wesentlich auch die Selbstreproduktion der Produktionsmittel, und eben darüber hinaus (per Abschreibung und Mehrprodukt/wert-Investition) die Ermöglichung der konkurrenz-erzwungenen Dauer-Innovation (und der damit einhergehenden „schöpferischen Zerstörung“, des permanenten Umbaus des Reproduktionssystems in der von mir oben angegebenen Richtung) – es sind genau diese Bereiche, um die sich eine „commonalistische“ Wirtschaft kollektiv Zwecke-setzend, Innovation und Reproduktion planend, kümmern muss.

Anm. Manchmal frage ich mich, ob die genannte Auffassung die Konsequenz darstellt, die manche Leute aus einer besonders eigenwilligen Interpretation von „Arbeitswerttheorie“ gezogen haben: c-Güter reproduzieren sich demnach irgendwie von selbst, nachdem sie einmal aus „Arbeit und Natur“ geschaffen wurden (in grauer industrieller Vorzeit…).Wenn das so wäre, bräuchte es wohl keine Arbeits- (oder Basis-ressourcen-)Verausgabung (und darauf bezogene Planung) im Produktionsmittel-Sektor der Gesamt-Reproduktion.

3. Eine weitere sehr beliebte Fehldeutung von Akkumulation ist deren Übersetzung in „Wachstum“: grob gesagt, neben eine Fabrik wird eine zweite gestellt, und so immer weiter. Dieses quantiative Wachstum ist unbestreitbar eine Dimension der spezifisch kap. Reichtumsvermehrung, die Produktivitäts-erhöhende ist aber die auf Dauer bei weitem wichtigere: Es wird eine zweite Fabrik hingestellt, und ganz woanders muss eine schliessen. Sehr oft war die, die schliessen muss, auch so eine „zweite“ (oder andere Version der ersten); welche von denen zuletzt schliessen muss, und ob überhaupt, lässt sich zum Zeitpunkt der Eröffnung nicht absehen (sonst könnte das Unternehmen die wohlweislich unterlassen, und sein Kapital „diversifizierend“ anderswo investieren). Schliessen-müssen ist auch nur ein Extremschicksal für (fixes, nicht-zirkulierendes) Sachkapital; es genügt oft, dass dort die Umsätze langsamer laufen als anderswo, das ganze also pro Zeit nicht so profitabel ist wie anderswo – äussere Ereignisse können bewirken, dass die Produktion auch dort plötzlich wieder hochfährt, „die Kapazitäten ausgelastet werden“. Die „überflüssige“ Mehrfachauslegung von Produktionseinheiten und die Konkurrenz aller gegeneinander hat eine „nützliche“ Kehrseite: Kapazitäts-Vorhaltung. Die Frage, wie viel Redundanz man sich leisten kann und will, ist auch im Commonismus eine entscheidende Planungsfragestellung.

Anm. Der flexibel gestaltete (Branchen)Arbeitstag(bzw -woche usw.) und die absolute „Kapazität“ (der Branchen-ArbeitsKRÄFTE; etwa in Gestalt von Überstunden oder Kurzarbeit) zur (Mehr- oder Weniger)Produktion von Mehrprodukt/-wert (pro Zeit) ist ebenfalls so eine „kapazitive“ Kategorie.

4. „Krise“ soll auch sein, und der Kapitalismus am Ende, wenn „Überakkumulation“ herrscht: Weil nicht jeder Cent sofort wieder gewinnbringend angelegt, und die Zinseszins-Spirale nicht in den Himmel schiesst, soll der Kapitalismus an sich selbst zugrundegehen. Dieses Versprechen hat er aber nie gegeben: Selbst bürgerliche Theoretiker (die als erste!) erwarten, dass Kapital-Überangebot (etwa, wenn man politisch entscheidet, Renten nicht per Umlage zahlt, sondern sie sich „kapitalgedeckt“ aus Kapital-Renditen finanzieren sollen) zum Sinken der Renditen (speziell Zinsen) führt: Pech gehabt! Man kann seinen Mehrwert (oder das Ersparte) auch aufessen, das ist ja immer noch was. Auch hier begegnen einem massenhaft Struktur-Anpassungen (immer neue „Un-Gleichgewichte“ und kostspielige Fehl-Allokationen) – aber ein Ende ist dabei nie absehbar.

5. Selbst wenn Arbeit die einzige Wertquelle wäre (bzw selbst als sie es war; ich schätze mal bis Ende der 1850er/1860er Jahre war sie es), so muss sie doch für Produktion von Lebens- wie Produktionsmitteln zugleich verausgabt werden, also in den Reproduktions-Abteilungen I und II des Reproduktionsschemas, oder für c- (Abt. I)  wie v-Güter (Abt. II), also denen, aus denen das Gesamtkapital besteht, und wird in beiden Fällen (wie stark auch immer) ausgebeutet, dh. sie liefert in jeder Branche ein entsprechendes Mehrprodukt (ua. aus Mehrarbeit): Die Zusammensetzung der gesellschaftlichen Gesamt-Lohnarbeit nach den Abteilungen, in denen sie geleistet wird, spielt daher für die Mehrprodukt-Menge keine Rolle, und die Profitrate (wenns denn eine einheitliche ist; was ich bezweifle) mag aus allen möglichen Gründen sinken, aber nicht, weil die Anteile der Wertschöpfung im Produktionsmittelsektor gegenüber denen im Lebensmittelsektor steigen. Die Überlegungen des 3.Bandes Kapital, die sich an diesen Gedanken anschliessen, sind daher obsolet (wenn meine Überlegung stimmt).

6. Das Versprechen, der Kapitalismus werde zugrundegehen an seiner erzdummen Fixierung auf Profit, hat in einer korrekten Politischen Ökonomie keine Grundlage. Erst recht nicht, dass man dann den dastehenden Produktionsmittelapparat übernehmen, und nur irgendwie anders bedienen könnte: Dieser „Apparat“ funktioniert eben nicht so wie die black box in 2. Stattdessen ist der Zusammenbruch oder besser, die Zerrüttung der kap. Verhältnisse zu erwarten im Zusammenhang mit immer unkontrollierbarer werdender Komplexität und Folge-Chaos durch die Kosten-Externalisierung und akkumulierte Schäden vormaliger Konkurrenz und Fehlallokationen. Und DAS ist es, was die Commonalisten zusammen mit der gesamten Bevölkerung erben: einen historischen Trümmerhaufen, und eine unübersehbare Masse von Problemen, die gelöst zu sein schienen, und sich jetzt, unter verschärften Bedingungen, endlich mörderisch direkt stellen, ohne dass auch nur der Hauch einer Ahnung vorhanden wäre, wie man sie lösen soll.
DAS ist meiner Ansicht nach die Zukunft, mit der der Commonalismus fertig werden muss; nur dass er als einziger unter allen Zukunftsentwürfen es auch kann.

7. Zum Trost, wenn das einer ist: Noch kein Epochenübergang ist bisher anders verlaufen.

 


Weiterführende Überlegungen zur (materialistischen) Geschichtstheorie

Bei Vergleichen von Epochen-Übergängen („Transformationen“), wie Simon (und vor ihm andre bei keimform) sie anstellen wollen, sind, wie ich meine, folgende wichtige Gesichtspunkte zu beachten:
a) Jede historische Empirie wirft die Frage auf, die aus ihr selbst nicht zu beantworten ist: Was an den beobachteten Vorgängen das Allgemeine und „Notwendige“ ist, und was kontingenten Umständen des besonderen Falls geschuldet war. Im Grund geht es dabei um die Bestimmung dessen, wie überhaupt eine ERKLÄRUNG des Übergangs aussieht – und worin „er“, also sein wesentlicher Gehalt besteht.
b) Solche Betrachtungen lassen sich im Grund oft erst anstellen, wenn („Eule-der-Minerva-Perspektive“) die nicht kenntlichen „Keimformen“ sich ausgewachsen haben, und die Entwicklungen sichtbar werden, zu denen jetzt die Vorstufen vor dem historischen Hintergrund deutlich hervortreten.
c) Aber das ist nicht alles. Die Akteure in historischen Übergängen geben sich ja auch selbst Rechenschaft darüber, was sie tun; dabei übersehen sie in charakteristischer Weise wesentliche Dimensionen ihres eigenen Handels ebenso wie desjenigen anderer Beteiligter: Die späteren historischen Epochen zeichnen sich – gerade auf Grundlage der mittlerweile hinzuerworbenen historischen Erfahrungen – gegenüber früheren aus durch einen grösseren Reichtum an Praxis-Kategorien, die zum Verstehen von Handeln  heranzuziehen sind (diese Ausdifferenzierung des Kategorien-Apparats zur Selbst- und Fremddeutung ist ein wesentlicher Entwicklungsstrang oder eine historische Entwicklungsdimension generell, der kulturell-arbeitsteilig sich niederschlägt in fortgeschrittenen Bildungsinstitutionen (neben den implementierten Produktionsweisen), aber auch notwendig individuell in Bildungsgängen, in denen immer wieder Einzelne die Möglichkeit haben und nutzen, zu den institutionell verkörperten Bildungsinhalten und -begründungen aufzuschliessen).
Das heisst aber auch: Es gibt niemals ein schlichtes oberflächliches Aufgreifen vergangener Entwicklungen, vielmehr beruht das VERSTEHEN des historisch Berichteten und Ermittelbaren immer auf einem subjektiv dem dort erreichten Stand gegenüber Zurückgebliebensein (was es auch gibt), einem dazu Aufgeschlossen-Haben, oft genug aber auch einem Darüber-hinaus-Fortgeschrittensein: Man versteht später die Früheren besser, als sie sich selbst verstanden haben. (Handeln, Praxis lässt sich anders als „verstehend“ Stellung nehmend überhaupt nicht sinnvoll besprechen; wenn es unverständlich ist, und nicht einmal wenigstens hypothetisch als irgendwie rational (wenn auch in irgendwelchen Hinsichten mangelhaft: fehlende Erfahrung, fehlende Handlungsspielräume, Affekte etc) erklärbar aufgefasst werden kann, hat/hätte man es (und sei es auch vorübergehend) nicht mehr mit Handeln zu tun.)
d) Konkret bedeutet das, dass epochal Fortgeschrittene sich ganz gewiss nicht aus früheren Epochenübergängen Belehrung holen können – nicht für das Problem, das SIE zu lösen haben, und das sich aus der vormaligen Problemlösung (unvorhersehbar für die Früheren) allererst ergeben hat. Das gilt, aus dem eben genannten Grund, allererst für die Problem-Diagnose, also Benennung dessen, was sich die Pioniere der nunmehr zum Problem geratenen vormaligen Errungenschaft nicht haben träumen lassen: Die hat offenbar eine Kehrseite, die man aus IHRER Perspektive nicht sehen konnte. Aber erst recht gilt es für die Lösungs-Ideen; aus dem ganz Abstrakt-Allgemeinen, das der neu anstehende mit dem früheren Übergang teilt, kann man genau das Neue NICHT erschliessen, das für die Bewältigung der neuen Epochen-Aufgabe entdeckt und gedacht werden muss: Es ist ja genau das, was der früheren Epoche als Gesichtspunkt nicht zugänglich war.
e) Viele Betrachtungen zum anstehenden Epochenübergang sehen nur eine CHANCE, also dass der absolvierte Fortschritt der Vor-Epoche etwas ERMÖGLICHT; und das ist allerdings vorausgesetzt für alles Weitergehende; man kann in diesem Moment des Übergangs-Szenarios auch das sehen, was Marx den „Traum der Sache“ nennt, den die Menschheit vor solch einem Übergang bereits besitzt (die Träume sind, wie man anderthalb Jahrhunderte nach Marx einsieht, erst noch sehr unvollständig gedacht). Was sich hingegen nach und nach als immer drückender erweist, ist die zur Lösung anstehende Aufgabe, und die Unfähigkeit der Vorepoche, mit den in ihr bereitliegenden Errungenschaften diese Aufgabe zu bewältigen – die Epochenkrise kündigt sich an als fortwährendes Scheitern an dieser Aufgabe, als Problem-Ignorieren, -Verschieben, oder mit illusionären und Pseudo-Lösungen, faulen Kompromissen, tausend Unzulänglichkeiten an seiner Oberfläche herumdoktern. Dieses Versagen der alten „Eliten“ und ihrer Gefolgschaften ist für ALLE Beteiligte schmerzlich erkennbar, es ist nur leider nicht behebbar, solange die Gruppen, die zur Aufgaben-Lösung prädestiniert sind, nicht kulturell haltbare und sozial vermittel- und verbreitbare Lösungsansätze, eben die „Keimformen“ der nächsten Epochenkultur, ausgebildet haben. Um dies zu tun, haben sie meist unzählige Einzelprobleme in verschiedensten Kultur-Dimensionen zu lösen – bedrückt und bedroht durch die Krisensymptome wie alle Zeitgenossen, als Aussenseiter vielleicht sogar besonders angreifbar; und ohne, dass ihre Errungenschaften bereits angefangen hätten, sich wechselseitig zu stützen, wie in „reiferen“ Stadien der Keimform-Entwicklung. Dazu kommt, dass sich die Pioniere ihrer Stellung erst sehr spät bewusst werden, und oft ihre Problemlösungs-Versuche in Kategorien der Vorepoche denken, also ihre eigene Tätigkeit nicht einordnen können (über einige Zeit hinweg hat diese Aussicht etwas erschreckendes, bevor sie anfängt, hilfreich zu wirken und ein individuelles „Epochen- und Pionier-Bewusstsein“ entstehen lässt).
f) Es ist nicht ausgeschlossen, vor allem, da es heute durch die früheren Erfahrungen mit Epochen-Übergängen motiviert ist (die früheren Pionieren nicht verfügbar waren), dass es einen theoretischen Vorgriff auf die praktisch umzusetzenden Kategorien gibt – also auch eine theoretische Kritik, eine Erkenntnis und Diagnose der Mängel der Vorepoche, und Umreissung der Aufgabe und der Richtung, in der Lösungsansätze zu suchen sind. Allerdings ist diese Vorwegnahme, selbst wenn sie im Bewusstseins-Horizont von Pionieren liegen sollte, extrem aufwendig, und erschöpft die vorhandenen Handlungsspielräume zu sehr, als dass sie neben noch drängenderen Aufgaben angegangen werden könnte. Es ist eher wahrscheinlich, dass solche Projekte noch dem Denken und den Einstellungen der Vorepoche näherstehen; in unserem Fall etwa ist die Idee, eine Theorie zustandezubringen, der im besten Fall nur andere Theoretiker folgen können, angesichts der egalitären und anti-autoritären Orientierung des neuen Epochenprojekts ziemlich verfehlt; die spätere begriffliche Orientierung muss und wird sich aus der PRAXIS ergeben. Es gibt genug zu tun.
(Insofern ist Simons Formulierung, dass er den Commonismus nicht zu denken wagt, zu korrigieren: Es handelt sich nicht um ein Wagnis, sondern eher um eine sinnlose Anstrengung und falsche Prioritätensetzung. Zur Veranschaulichung muss man sich nur diese Theorie-Seite hier ansehen – wer soll (will, kann) das alles lesen?)


Im Anschluss an diesen Kommentar  https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2017/09/29/gph1/#comment-10325 auf Annette Schlemms Blog wurden folgende Bemerkungen geschrieben:

Zum allgemeinen Geschichtsmodell noch diese Skizze:

Zur Rolle des Lernens:
1. Ich spreche nicht vom Lernen AUS, sondern von dem IN der Geschichte (das schliesst das historische Lernen aus Geschichte und darin angehäufter Erfahrung ein) – davon würde ich beinah sagen, es ist,was Geschichte geradezu ausmacht. Ein sehr wichtiger Hilfssatz ist dabei: Es sind Einzelne, die lernen, auch viele; es sind Verbindungen zwischen diesen Einzelnen (keineswegs immer „persönliche“ Verbindungen, aber wenn viele auf Wenige hören, ist das auch eine), in denen, schlecht und recht, Lern-Resultate sich ausbreiten. Vieles davon läuft autoritär vermittelt, also auf niedrigstem Niveau. Bis heute.
2. Das Feld, auf dem (wie ich glaube) Lernen stattfindet, ist: PRAXIS; und da bestehen die epochalen Schritte nicht nur im immer besseren (tradierten) Kennen und (begrifflichen) Erschliessen der Welt und ihrer „Gesetzmässigkeiten“, sondern vor allem auch in sehr fundamentalen (ihren Trägern sogar unhintergehbar erscheinenden) Rahmen-Orientierungen; ich hatte sie andersweitig genannt: Rahmen-Hypothesen, man könnte sie genausogut: Sinn-Begriffe nennen. (Nicht dass die Welt sinnvoll ist, wird da gedacht, sondern was das hiesse, wird genauer bestimmt – zusammen damit: Was es hiesse, in einer so, nämlich „sinnvoll“, entgegenkommenden Welt Sinnvolles (weiter) zu versuchen.)
3. Von diesen grundlegenden Orientierungen kann es nicht so viele geben, denn einmal müssen die „fortgeschrittenen“ unter ihnen von Nachkommenden immer wieder aufs neue eingeholt und in ihrem eigenen Leben (in „Bildungsgängen“) nachvollzogen werden; zum andern sehen wir nicht umsonst die Zivilisationsgeschichte in wenige grosse Epochen unterteilt: Nicht nur, dass sie sich mit jeweils grossen „einfach zu benennenden, aber schwer auszuführenden“ Epochen-Aufgaben*) oder -Projekten auseinanderzusetzen haben – nicht nur, dass dazu bestimmte Produktionsverhältnisse gehören – sondern, es müssen sich (als dritte, unerlässliche Voraussetzung) auch genug Leute finden, durch die und an denen fortgeschrittene Rahmen-Orientierungen sich herstellen, sodass sie wenigstens autoritär, kulturell vermittelt, die kollektive und auf diesem Niveau „vergesellschaftete“ Praxis bestimmen. Vor-religiöse, aber politisierte, religiöse und moderne Weltverhältnisse sind die Kandidaten für solche Orientierungen.
4. Auch die „bürgerliche“ Geschichtswissenschaft**) lernt allmählich, sich als historische Abteilung der Gesellschaftswissenschaften (der Kultur- und Sozialanthropologie) zu begreifen, und ihr Thema zu formulieren als: der soziale Wandel in der Vergangenheit. Eine Theorie darüber existiert freilich kaum; denn was bürgerlicherseits dazu vorgelegt wurde, baut auf Ansätzen (Systemtheorien) auf, die nur erst die Stabilität von Gesellschaften erklären wollen, also dass sie überhaupt Bestand haben; das Feld, auf dem wiederum theoretische Ansätze (jenseits der marxistischen) zu einer Erklärung von „Wandel“ angesiedelt sind, ist das der Entstehung moderner Gesellschaften („Modernisierung“). Sehr viel ist da bislang nicht zu finden, zumindest nicht an anerkannten und bekannten Grosstheorien (Weber, Elias; Foucault).
5. Nach meiner Einschätzung sind also, wie schon in Punkt 1, Schlüsselbegiffe für die Entwicklung solcher Theorien (also gerade auch derjenigen, die die Gegenwart beschreiben): das Lernen der Einzelnen, und seine syn- und diachrone Ausbreitung auf andre. Materialistisches Zentralthema: Wie verarbeiten historische und zeitgenössische Bevölkerungen (die nicht einfach von selbst, „naturwüchsig“ vergesellschaftet sind) Wissen? Wie werden sie mit „Gefällen“ und „Ungleichzeitigkeiten“ fertig, wie organisieren sie die Tradierung und Wissenskonservierung?
(Diese Fragestellung rückwärts, auf die Vergangenheit zu richten, ist eine typisch moderne Art, die Vergangenheit zu erklären und zu befragen. Also sich zu dem „Gefälle“ von heute zu „damals“ zu stellen.)
6. In diesen Gefälle-Beziehungen ist ja auch Kritik versteckt: Derundder Fortschritt macht einen entscheidenden Unterschied – SO könnt ihr (konnten sie damals)  nicht bleiben, euch fehlt (ihnen fehlte) dasunddas usw
Und was, wenn nicht ein Gefälle in der fortgeschrittenen Beurteilung zeitgenössischer Verhältnisse, liegt denn der zeitgenössischen Fundamentalkritik zugrunde? Also auch die (zentrale) Frage: Wie vermittelt man die eigene Fortgeschrittenheit anderen? Was hatte man für Voraussetzungen, die sie nicht haben, derart dass man den Fortschritt absolviert hat, sie aber nicht?

*) das antike Grossreich (die asiatische Produktionsweise, naja): Mehrprodukt-Produktion in klimatisch und geographisch (potentiell) hochproduktiven Regionen überhaupt erstmal einrichten  (frühere Periode bis ca Ende Bronzezeit) und
(spätere Periode) von da aus (per Logistik) in einem mit den dadurch verfügbaren militärischen MItteln zu verteidigenden natürlichen Grossraum auf vorgeschobene Stützpunkte verteilen. (Politisierung mit vor-religiösem Weltverhältnis als Voraussetzung)
Diese Mehrprodukt-Erwirtschaftung in den Teilregionen des vormaligen Grossreichs wiederholen, aber ohne die lokalen Vorteile, dh Erschliessung der versteckten und erst zu entdeckenden lokalen (Re)Produktionsoptionen (frühere Periode: mittelalterlicher Feudalismus, gemeinsame „Hoch“-Religion für alle Bevölkerungsklassen und übergreifende kulturelle Gemeinsamkeit im gesamten vormaligen Grossreichs-Kulturraum, hinlängliche Reichtumsproduktion in der Fläche, um Angriffe aus der Peripherie zuverlässig abzuwehren oder die Angreifer zu assimilieren);
Fernhandel mit den Überschüssen. sobald sie zuverlässig produzierbar gemacht sind, Austausch von Lebensformen und Techniken aus vielen Regionen, schliesslich weltweit: Reformation und Frühneuzeitlicher Staat.
Moderne (und Aufklärung): Entwicklung der Produktivkräfte (Naturwissenschaften) als Selbstzweck (mit beständiger Neu-Einrichtung (Revolutionierung) der für weitere Fortschritte nötigen Reproduktionsgrundlagen und aus ihnen für Innovation, Rahmen-Sicherung etc abziehbaren Mehrprodukte.
**) für erste Orientierungen: https://de.wikipedia.org/wiki/Modernisierungstheorie
siehe vor allem die Autorenliste am Ende.
Zur Geschichtstheorie noch zwei zufällige Namen: Christopher Hallpike (Theorie der sozialen Evolution); Frantisek Graus (hat ein „Vielsträngigkeits“-Modell der Kulturentwicklung skizziert: „Stränge“ im Graus-Sinn sind nicht die nebeneinander her laufenden Entwicklungswege verschiedener Kulturen, sondern die arbeitsteilig ausdifferenzierten und aufeinander bezogenen gesellschaftlichen Tätigkeiten IN einer Kultur (die Art ihrer Verwobenheit, wenn sie ausgereift sind, nenne ich, soweit es um die rein matereille Reproduktion geht, „Produktionsarchitektur“))
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„Was ich erstaunlich finde, ist die große Bedeutung von jeweils (im Verhältnis zu den früheren Verhältnissen) kontingenten Faktoren, die jeweils zusammen kommen müssen, dass wirklich etwas Neues entsteht, was sich dann auch längerfristig wieder verallgemeinert und längerfristig existiert.“ (Annette Schlemm)
Das war das abstrakte „Strangmodell“ von Graus.
Und es scheint sich gut zu vertragen mit Ellen Meiksins Wood.
Aber ich hatte ausdrücklich zwei weitere Theorie-Elemente für unerlässlich erklärt (sodass die Erklärung alle drei Momente enthält… wahrscheinlich noch etliche andre): die Histomat-Erklärung nach dem Muster: „erkennbar werdende Aufgabe/Notwendigkeit auf der Ebene der materiellen Produktion plus Möglichkeit zu deren Lösung aufgrund des Fortschritts im alten Prod.verhältnis, unter Voraussetzung des („revolutionär“) neuen Prod.verhältnisses“; und dazu die „passenden je nächst-fortgeschrittenen Mentalitäten (Lernregeln, Weltverhältnisse, Sinndefinitionen) bei hinreichend vielen Trägern“ (vorreligiös-politisiert; religiös; modern). Eine ziemlich komplexe Erklärung also.
Das Strangmodell von Graus ist nur eine weitere solche (behauptete) abstrakte Verlaufs-Anforderung.

Die Konfrontation notwendig/zufällig („sich selbst stabilisierender Zufall“) spielt eine Rolle in JEDER Evolutions-artigen Theorie (das war die Spezialität von Christopher Hallpike’s Buch: Social Evolution; auch Collingwood hat solche Erwägungen angestellt im Rahmen von „welche naturwissenschaftlichen Konzepte könnten in der Geschichts-Erklärung eine verwandte (wenn auch nicht ausschliessliche) Rolle spielen?“).

Der scheinbare Widerspruch liesse sich schon auflösen durch eine simple Ebenen-Unterscheidung: allgemeiner Übergangstyp vs. konkrete Ausprägung aller dafür benötigter Elemente in der konkreten Situation. Und wenn dann noch das Element „sich selbst verstärkender Zufall“ der früher oder später irgendwo stattfindet) dazukommt…
Schau dir die drei Elemente, die ich benenne, nochmal in ihrem Verhältnis zueinander an, und unterstelle mal, sie seien allesamt notwendig, aber erst zusammen hinreichend (durch Graus‘ Konzept der Kulturstränge kommt ohnehin ein Element unbestimmter Vielfalt herein, das erstmal begrifflich viel genauer sortiert werden müsste):
Dann gibt es so etwas wie eine Hierarchie und die Möglichkeit(Wahrscheinlichkeit einer Reihenfolge (die ist aber anders, als bei Marx/Engels vorgesehen:
1. die Mentalitäten sind oft schon lange da, wenn auch nicht an zahlreichen Personen, sie müssen sich zu Bildungsgängen verfestigen (EIN Kulturstrang, nach Graus)..
2. die ungelöste materielle Aufgabe+ Lösungsmöglichkeit dafür (Produktivkraft-Keimformen) + Idee (Bildungselement nach 1, plus vor-entstandene Produktionsverhältnis-Keimform) – das kommt wohl als nächstes; und
3. gleichzeitig, vorzeitig, nach einer als „Umsturz“, Neuanfang usw deklarierten Epochengrenze die vielsträngigen Entwicklungs-linien, die es zu einer kritischen Dichte gebracht haben müssen.

In meiner kleinen Betrachtung zu „Aufklärung für Schüler“ (sie war tatsächlich mal für eine Oberstufen-Geschichts-  und Deutschlehrerin als Material-Handreichung geschrieben worden und ist dann aus dem Ruder gelaufen) gibt es Beispiele: die reformatorische Theologie und Mentalität war längst da, Waldenser usw; Protestantismus als flächendeckende  Einstellung gabs aber erst im Zusammenhang mit frühneuzeitlichen Staatsgebilden, die die „ultramontanen“ Staat-im-Staat-Gebilde wie Klöster/Orden und die gesamte Kirchenorganisation nicht mehr in ihre eigene Verfassung und Projekte einbinden konnten (und sich nicht einfach wie jeweils Spanien oder Frankreich einen Papst kaufen konnten). Aber das ist lang nicht alles… Humanismus und Buchdruck und unendlich viel andres spielen herein, und das bring nun wieder auf einen Nenner – gibts den?:
https://de.wikipedia.org/wiki/Konfessionalisierung

Und das sind alles nur Finger- und Vorübungen zu einem viel, viel feineren und theoretisch anspruchsvolleren Konzept von „Transformation“ (und, nebenbei, auch von Erklärung und Kritik des Bestehenden, des bürgerlich-modernen Zustands…).
Denn, das wirst du ja mittlerweile erkannt haben, mir ist der „Marxismus“ bislang viel zu roh, grobschlächtig, simpel hinsichtlich seiner eigenen Ansprüche, und soll, wenns nach mir geht, natürlich nicht durch eine ähnlich holzschnitt-artige Alternative ersetzt werden.
Aber das greift jetzt vor…
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