Vorwort: Begriffe und Begriffsbildung

1.
Begriffe sind für unsere praktischen Belange wichtige Hinsichten, in denen wir Dinge miteinander vergleichen – Hinsichten, in denen sie anderem gleich oder ähnlich sind, oder Hinsichten, in denen sie sich von anderen unterscheiden. Nachdenken über solche praktisch wichtigen Gemeinsamkeiten oder Unterschiede, also Begriffe, schon vorhandene oder auch erst noch zu bildende, ist daher immer auch eine Besinnung auf die Frage: Was ist uns praktisch (zurecht) wichtig, auf welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede sollten wir in unserer „Praxis“ achten, und und auf welche nicht? Von daher verwundert es nicht, dass das Nachdenken über Begriffe viel zu tun hat mit einer Besinnung darauf, was wir wollen, oder (im eignen Interesse) wollen sollten – generell, oder anders als bisher. Ein solches Nachdenken hat dann vor allem zwei Richtungen: Einmal werden dabei Lücken in unseren Begriffen entdeckt und gefüllt, zum andern vorhandene Begriffe umgebildet; und damit Aufmerksamkeit (das Achten-auf-etwas) anders und neu organisiert.
So wie unsere praktischen Belange, unsere Ziele und alles, was wir für ihre Realisierung unternehmen, hierarchisch (in Unter- und Teilziele, vs. Endziele) und thematisch (unterschiedliche Zielrichtungen) geordnet sind – so auch unsere Begriffe; diese Ordnung, soweit sie besteht, heisst „System“; und darum bilden auch unsere Begriffe, soweit sie in einem geordneten Zusammenhang stehen, ein Begriffs-System.
Alle veränderten und neu hinzukommenden Begriffe müssen unter anderem daraufhin untersucht werden, wo im bestehenden System unserer Begriffe sie hingehören – in welchem Zusammenhang zu den schon existierenden Begriffen sie stehen. Genau da beginnen dann jene speziellen Problemstellungen, die man im engeren Sinn philosophische nennt, solche nämlich im Zusammenhang mit der Frage, welche Begriffssysteme überhaupt denkbar sind, innerhalb welcher Grenzen also sie so oder anders sein können, d.h. warum, wodurch sie variieren, schliesslich, wo diese Grenzen für mögliche Varianten verlaufen, worin sich also alle Begriffssysteme notwendig gleichen (wenn sie Sinn machen sollen) – welche Begriffe Einzelne, Gruppen, Gesellschaften oder ganze Kulturen – gleich welche Lebenssituationen oder Erfahrungen, also (Bildungs-)Geschichten sie absolviert haben –  unbedingt auf Dauer irgendwann (spätestens aus bestimmten, vorhersehbaren Anlässen) ausbilden MÜSSEN, weil kein Begriffssystem auf Dauer ohne diese Begriffe auskommt, und jede Aufmerksamkeitsorganisation auf längere und lange Fristen auf sie angewiesen ist (wenn sie Sinn machen soll). Solche auf Dauer notwendigen (und nur vorübergehend vielleicht entbehrlich scheinenden) Begriffe nennt man traditionell KATEGORIEN.

Zusatz 1. Die Worte, mit denen wir unser Begreifen, unsere Verständnisse, unsere Begriffe ausdrücken, haben nur, wenn sie in konkreten Äusserungen und in konkreten Situationen gebraucht werden, einen Sinn. Aussagen über Begriffe sind also eigentlich abgekürzte Aussagen über die Äusserungen, in denen sie vorkommen (können). Aussagen über Begriffs-Zusammenhänge sind abgekürzte Aussagen über die Art des Zusammenhangs zwischen den Äusserungen, in denen diese Begriffe vorkommen (können).
Dass diese abkürzenden Aussageweisen überhaupt für möglich gehalten werden, setzt eine bestimmte Auffassung vom Funktionieren von Sprache und Sprechen voraus: Dass nämlich die Begriffe (die sie ausdrückenden Wörter) es sind, die den materialen Reichtum in die Sprache bringen; und die Äusserungsformen letztlich feststehende Formeln sind, in die die Begriffswörter (mit ihren Flexionen, falls sie welche haben) eingesetzt werden (können).
Diese Auffassung vom Funktionieren der Sprache unterstellt allerdings einen viel grösseren (aber keinesfalls beliebig grossen!) Vorrat an Äusserungsformen und an Schlussfolgerungs-, Begründungs-, Explikations- und anderen Zusammenhängen zwischen ihnen als etwa die klassische aristotelische Logik – und dasselbe gilt leider ebenso, nach meiner Überzeugung, für die derzeitige Logik in der Tradition von Frege und der Analytischen Philosophie.
Dieses Ganze der sprachlichen Möglichkeiten und Ausdrucksformen, in die man später hinzukommende Begriffe einsetzen kann, also die Sprache, muss immer schon dasein, bevor es irgendwelche Erweiterungen des Begriffssystems geben kann. Von der Sprache (und ihrer „kategorialen“ Beschaffenheit: der Logik) wird daher notgedrungen im folgenden noch viel die Rede sein.

Zusatz 2. Die Sprachen, die wir sprechen, enthalten natürlich eine unübersehbar grosse Menge an Begriffen (Wörtern), die für vielfältigste „praktische Belange“ nötig und nützlich sind; die Sprachgemeinschaft, Gruppen, Einzelne sind ständig damit befasst, dieses Inventar um neue Begriffe (Wörter) zu erweitern; dieses ihr Denken und Begriffebilden könnte man als praktisches Begriffebilden bezeichnen. THEORETISCHES Nachdenken und Begriffe um-, fort- und neubilden bringt ebenfalls andere und neue Begriffe hervor; aber dabei nimmt es ständig Bezug auf das vorhandene Begriffssystem, und auf Probleme, die mit der aktuellen Verfassung des Begriffssystems zusammenhängen – theoretisches Begriffebilden (umbilden, fortbilden, neubilden) hat immer auch einen SYSTEMATISCHEN Zweck, einen Zweck hinsichtlich des vorhandenen Begriffssystems oder eines wichtigen Teils von ihm. Solche Zwecke können zum Beispiel sein:
– Dass das vorhandene Begriffssystem an bestimmten Stellen durch „theoretisches Nachdenken“ vervollständigt wird (wenn und weil der Nachdenkende Bedarf danach verspürt; dabei müssen ihm andere nicht unbedingt folgen – Begriffsbildungen können nur vorgeschlagen werden, andere müssen sie nicht akzeptieren; es geht ja dabei immer um Bewertungen, was wichtig ist und Aufmerksamkeit verdient).
– Oder es werden Fehler bei der Begriffsbildung oder Begriffserklärung aufgedeckt (solche zB. die in Antinomien, unlösbare Widersprüche, oder unendliche Regresse führen) und Korrekturen vorgeschlagen.
– Oder, es wird systematisch der Zusammenhang zwischen den Begriffen eines Bereichs, der praktisch von Interesse ist, dargestellt – um Übersicht darüber zu bekommen, oder zu Unterrichtszwecken usw.
Solches theoretisches Nachdenken über einen praktisch wichtigen Teil des gesamten Begriffssystems kommt regelmässig vor in den Wissenschaften – und dient dann der Organisation von Aufmerksamkeit im Umgang mit oft unübersichtlichen Wissensmassen. Im Alltag hingegen, oder im Leben, ist der Drang, theoretisch nachzudenken, fast immer Ausdruck äusserster Ratlosigkeit, und des Versagens aller Versuche, sich bei existierenden Autoritäten oder Experten Auskunft und Rat zu holen; anders ausgedrückt: Er ist Anzeichen einer schweren KRISE. Krisen dieser Art und dieses Ausmasses treten normalerweise nur auf an historischen Epochengrenzen – die sich später in Bildungsgängen derer wiederholen, die individuell zu den fortgeschritteneren Bildungsständen ihrer Zeit aufschliessen.
Die Verunsicherung und die Haltlosigkeit bisheriger Einstellungen führen dann oft vom zunächst noch bloss theoretischen zum im engeren Sinne PHILOSOPHISCHEN Nachdenken über Kategorien, und ihre Zusammenhänge (also, nach dem gesagten, über die Zusammenhänge zwischen den Äusserungen, in denen die Kategorien, also „notwendigen und notwendig SO zu bildenden Begriffe“, gebraucht werden (müssen).)

Zusatz 3: Die Bedingung im Text oben „wenn etwas (ein Begriffssystem; Handeln; Sprachverhalten (neu eingeführtes; alt-eingeführtes in neuen Verwendungen) auf Dauer Sinn machen soll“ scheint eine universelle Gemeinsamkeit zu benennen: Alles, was Menschen überhaupt, bei allen Unterschieden gemeinsam haben können, scheint zu sein, dass ihr Begriffebilden und -Anwenden (ihr Denken), Handeln, Sprechen Sinn macht, und darum für alle anderen, die ansonsten ganz anders sind, dennoch verständlich sein kann (zumindest, wenn die einen sich ums Verstehen, die andern ums Verständlichsein bemühen). Sinn zu machen, im Unterschied zu: keinen Sinn machen, sinnlos sein, scheint die oberste mögliche Unterscheidung zu sein, die wir in unserem Denken, Handeln, Sprechen überhaupt machen können. Eine Welt (möglicher Erfahrungsverlauf), AUF den man nicht denkend, handelnd, sprechend, und somit Sinn machend, reagieren kann, macht keinen Sinn, kurz: Nur das macht Sinn, woraus wir Sinn MACHEN können. Worin unser Denken, Handeln, Sprechen besteht, DEFINIERT somit, was in der Welt Sinn machen würde oder macht, und was nicht – das System der notwendigen, notwendig in jeder denkbaren Welt, jeder möglichen Geschichte (Erfahrungsverlauf) benötigten Unterscheidungen und Muster (wesentliche Gemeinsamkeiten), also das der Kategorien, benötigt zu seiner Aufstellung also die ständige und simultane Rückbesinnung darauf, wie wir handeln und (handlungsvorbereitend, handlungserklärend) sprechen.
(Hier wird im folgenden die Auffassung vertreten und begründet werden: Sprechen und Handeln (und seine Gründe), wenn sie ihren Namen verdienen, sind so eng verwoben, dass es genügt, eins von beidem zu analysieren, um Massgebliches über das andre sagen zu können. Für die einen mag das furchtbar trivial sein; für andere… wäre es eine extrem heilsame Einsicht; wenn sie sie nur einmal prüfen wollten.)

Zusatz 4: „Denken“ wird hier garnicht als eigenständiges Drittes erwähnt. Als „psychischer Vorgang“, Überlegen und Nachdenken, verbraucht es Zeit und Aufmerksamkeit, die für andres dann nicht zur Verfügung stehen, ansonsten zeigt es sich nur durch sein nachvollziehbar korrektes Resultat, das sich im Sprechen und Handeln ausdrückt. Denken, als Vorgang, ist somit reichlich uninteressant – OB ein äusserlich so erscheinendes Innehalten, Sich-Besinnen, Nachdenken eines war, kann erst am Ergebnis festgestellt werden. Soviel als Andeutung und Vorgeschmack darauf, wie in Theorien der Art der hier vertretenen, „Psychisches“, Subjektives, innere Vorgänge behandelt werden – nämlich als etwas von sehr nachrangigem Interesse. Das Wesentliche am Innern ist das Äussere (das Geäusserte).

2.
Aus dem Zusammenhang von Wichtigsein, (praktisch) Wollen, Achten-wollen-auf, und Begriffen geht hervor, dass nicht nur praktisches, sondern auch theoretisches Nachdenken und Probleme immer mit Fragen wie den folgenden zu tun haben: Was sollte uns für welche Zielsetzung wichtig sein?, Was ist dafür von Bedeutung, was nicht?, Worauf wollen und sollen oder sollten wir in diesem Zusammenhang achten, und worauf nicht?
Speziell beim theoretischen Nachdenken, wo es um ALLE systematisch VERKNÜPFTEN oder zu verknüpfenden Begriffe (typische Frage: „Wie hängt X mit Y zusammen? Was ist die Beziehung zwischen ihnen?“), speziell die allgemeinsten oder GRUNDBEGRIFFE („Was ist EIGENTLICH X?“, „Was genau bedeutet eigentlich „X“?“) eines Wissens- oder Themen-Bereichs geht, ist die Frage nach den Zielen (denen das Wissen usw. dient) sehr grundlegend, und die Besinnung darauf verlangt viel Um- und Übersicht.
Oft genug ist die (problematische) Ausgangssituation für solche Fragestellungen, dass man nicht etwa bloss auf Anhieb keine Antwort weiss, sondern meist steht nicht einmal fest, wie und wo man sie suchen soll; die Worte, mit denen man solches Nicht(mehr)wissen, wie hier zu antworten ist, bezeichnet, heissen Verwirrung, Ratlosigkeit, NICHT urteilen können, nichts sagen können. Insofern jede sinnvolle Frage Gebrauch macht von Begriffen, lässt sich diese Ausgangssituation darum oft auch so beschreiben: Man weiss nicht einmal, welche Fragen hier sinnvollerweise am Platz wären, oder wie zu fragen wäre. Anders herum gesagt: Im Bereich des im engeren Sinn theoretischen Nachdenkens ist, sinnvoll fragen zu können, bereits Anzeichen, dass die Lösung da ist. Woraus folgt, dass „(irgendwie nicht sinnvoll) Fragen(Können)“ (oder eine unlösbar erscheinende Kontroverse, in welche Richtung Antworten, nämlich richtige Fragen gehen sollen) beim theoretischen Nachdenken nur Symptomcharakter hat, und den Ort oder die Art der Anfangs-Verwirrung oder -Ratlosigkeit bezeichnet. Eine „Antwort“ im eigentlichen Sinn hingegen wird nicht gesucht und kann auch nicht gesucht werden – im Fall dieses Nachdenkens ist eben nicht klar, wo gezielt nach was zu suchen wäre, um Ratlosigkeit und Verwirrung zu beheben.
Der verspürte Bedarf oder Antrieb zur Neu-, Fort- oder Umbildung unseres Begriffssystems könnte somit als ein „dunkler“ beschrieben werden: Er kann sich nicht artikulieren – er besteht im paradoxen Bewusstsein eines Mangels, für den die Worte oder Begriffe fehlen – der Mangel besteht genau darin, dass sie fehlen; aber grade das können die davon Betroffenen dann eben nicht sagen.
(Sie müssten sonst Dinge sagen wie diese: „Wir haben denundden Begriff, oder die unddie klare Einsicht in Begriffszusammenhänge noch nicht ausgebildet, und sind daher mit folgenden Konsequenzen dieses Fehlens konfrontiert: …“)
Diese häufig anzutreffende Trübheit (Verwirrtheit, Ratlosigkeit) am BEGINN theoretischer Klärungs- und Begriffsbildugsprozesse führt zu der Parallelfrage: Wann und warum halten wir zurecht einen solchen Anfangsmangel für behoben und BEENDET? Der Nichtbedarf oder Nichtmehrantrieb weiterzumachen mit dem Klären und Denken, das Sichzufriedengeben in der Art „JETZT ist alles geklärt!“, scheint genauso trübe, und eigentlich grundlos. Sodass man sich fragen kann, ob im Bereich des Begriffebildens und somit des theoretischen Denkens überhaupt irgendwelche Verbindlichkeit oder Regeln herrschen, und nicht viel eher verworrene Gefühle, trübe Motive und scheinbar willkürliche Befriedigungen, deren Quelle ganz woanders zu suchen ist als in dem, woran, als angeblichem Mangel oder auch Beseitigung eines solchen Mangels, sie anknüpfen.

3.
Die Antwort auf diese Frage (immerhin ist es eine; aber ist sie so klar, wie sie durch ihre Formulierbarkeit scheint?) liefert jene spezielle Abart des theoretischen Nachdenkens, das man philosophisch nennt: Philosophisches Nachdenken läuft auf Begriffe hinaus, die man nur vorzeigen oder vorgezeigt bekommen muss, damit klarwird: Sie sind notwendig, und zwar in genau der Version, in der man sie vorzeigt oder gezeigt bekommt: So und nicht anders müssen sie sein.
Aber ist ein solches Klarwerden nicht immer wieder nur ein subjektiver Eindruck, ein illusionäres (sog. Evidenz-)Gefühl, das einem widerfahren kann oder das ausbleiben kann, nach Gesetzmässigkeiten, die ganz wo anders ihren Ursprung haben als in irgendeiner idealen Norm, auf die man sich zu seiner BEGRÜNDUNG berufen könnte (und an der man die Berechtigung oder Nichtberechtigtheit der Evidenzgefühle prüfen könnte)? Wie erkennt man denn die Berechtigtheit der Norm, soll es da auch wieder ein Gefühl geben?Auf der Ebene, wo diese Fragen eine Antwort verlangen, kann sie nicht gegeben werden – nicht in überzeugender Weise, jedenfalls – ; nur vielleicht dieser Hinweis:
Man kann das Letzt-Rechtfertigende nicht rechtfertigen, man kann es nur vorführen, aussprechen, zeigen. Darauf muss sich ein Skeptiker schon einlassen – er muss sich die angeblich notwendigen Begriffe und letzten Gründe wenigstens einmal anhören. Dabei kommt dann etwas unerwartetes heraus: Anders, als der Skeptiker behauptet, gibt es garkein „Evidenzgefühl“ (eher eins des Gelangweiltseins), das die notwendigen Begriffe und letzten Gründe „begleitet“, stattdessen ein schlichtes Nichtfolgenkönnen, Nichtverstehenkönnen, was gemeint ist, wenn „es“ oder „sie „anders“ ausgedrückt oder gesagt würde(n): Das sog. „Letzt-Rechtfertigende“ ist vor allem solches, das nicht abgeändert werden kann, ohne unverständlich zu werden. Um es zu wiederholen: Man muss sich in die Darstellung selbst hineinbegeben. Und dann.. muss jeder selbst entscheiden. (Ob er das Sinnlose verstehen will – und vor allem, es verstehen KANN..)
Die eben kurz skizzierte Kontroverse mit „skeptischen“ Relativisten leidet unter anderem auch darunter, dass dabei das „Letztzubegründende“ oder die „letzten Gründe für etwas“ reduziert werden auf das Behaupten irgendwelcher „Sätze“ oder „Thesen“ (über Sprache, Schlüsse usw.) Dagegen deutet sich hier die Möglichkeit an, dass die andre ausschliessende Geltung bestimmter Äusserungsformen nicht „behauptet und anschliessend (durch weitere Behauptungen) begründet“ werden kann, sondern nur durch Anführen, beispielhaftes Aussprechen der betreffenden Äusserungsformen, also nur in und anhand von in Beispielen VORGEFÜHRT und GEZEIGT werden kann.
Man könnte diese Art des Nachweisens oder „Begründens“ auch beschreiben als: Das vollständige Abschreiten und Besichtigen der Grenze, die das Sinnvolle (überhaupt sinnvoll zu Sagende) vom Sinnlosen trennt.
(Dazu gehört dann auch, dass, wie auch immer, die VOLLSTÄNDIGKEIT, sei es als Lückenlosigkeit der Reihe der alternativlos Sinn machenden Gebilde, sei es als Vollständigkeit der Menge ihrer jeweils sinnlosen Alternativen, gezeigt wird.)

4.
Etwas, das anders nicht gedacht werden kann, weil es sonst keinen Sinn macht, ist beispielsweise, was ich die KATEGORIEN genannt habe.
Ähnliches lässt sich, aus meiner Sicht, etwa sagen von dem System der (einzig möglichen) ÄUSSERUNGSFORMEN, die es in EINER (Einzel)SPRACHE geben kann, und der zwischen ihnen bestehenden AUSSCHLUSS- und EINSCHLUSS-, BEGRÜNDUNGS- UND SCHLUSSFOLGERUNGSBEZIEHUNGEN.
Und natürlich gibt es dann sogar, wenn man die sämtlichen Äusserungsformen mit den für sie je geeigneten Kategorien besetzt, etwas wie ein System der FORM MÖGLICHER (sinnvoller) ÄUSSERUNGEN überhaupt – und ihrer Verbindung mit anderen solchen Formen.
Bei alldem würde, wie eben angedeutet, der Nachweis, dass das jeweilige Gebilde „nur so und nicht anders sein kann (wenn es Sinn machen soll)“, dadurch geführt, dass man die möglichen Alternativen konstruiert, und sich klarmacht, dass und kraft welcher Mängel sie sinnlos sind. (Ausserdem müsste sich die Lückenlosigkeit und Vollständigkeit der Reihe der Gebilde zeigen – dass es ALLE sind und dass darüberhinaus kein Platz für andre ist.)
Mit diesen Nachweisen eng verwandt und vergleichbar sind solche, die den Typen von Handlungen, Absichten, möglichen Situationen gelten, auf die sich mögliche Äusserungen beziehen.
Aber nicht, weil man sich auf ein dabei zu unterstellendes grundloses, daher als letzter Grund fungierendes „Nicht-anders-Sein-Können der Sprache“ bezieht, die dann eben doch als quasi metaphysisches Faktum und Quelle für Letztbegründungen herhalten soll.
Sondern darum, weil die Anforderungen an Situationen, Absichten, Äusserungen, die „Sinn machen, oder aus denen sich etwas Sinnvolles machen lassen“ soll, untereinander zusammenhängen – „sinnvoll“ können nur sein: Situationen, im Verbund mit IN ihnen bekundbaren Absichten, zusammen mit denjenigen Berichten, Beurteilungen, Erwägungen, die ein Sprecher angesichts von Vorgeschichte und gegenwärtiger Situation als seine Gründe für diese Absichten anführen könnte, sowie Abfolgen von Äusserungen dieses Sprechers und anderer, die gerade mit ihm reden.
Dementsprechend erstreckt sich die Möglichkeit der Zuschreibung „sinnlos“ immer darauf, dass mindestens eins dieser Elemente nicht zu den andern passt:
– Situationen, die sinnlos sind, sind solche, IN denen keinerlei „sinnvolle“ Absicht bekundet werden kann (man kann sich nicht sinnvoll zu dieser Situation verhalten – sie macht keinen Sinn, dh. man kann aus ihr keinen Sinn, nichts Sinnvolles, machen usw.);
– Bekundbare Absichten (erst recht deren Ausführung) sind auf Dauer sinnlos, die nicht, oder immer wieder nicht, zu der Situation oder irgendeiner der Begründungen passen, die von einem Sprecher für sie angeführt werden (angesichts seiner Vorgeschichte; zu seiner Vorgeschichte gehört alles, was der Sprecher als Tatsache berichtet, sowie als seine Beurteilung der Tatsache oder seine Erwägung angesichts dieser Tatsache glaubwürdig und nachvollziehbar äussert).
– Gespräche (Verständigungen) oder Äusserungen einzelner an ihnen beteiligter Sprecher sind SINNLOS, WENN dabei ÄUSSERUNGEN (Berichte, Beurteilungen, Erwägungen) Einzelner ENTWEDER in bestimmten Aspekten ihrer Geltung (Wahrheit, Richtigkeit, Vernünftigkeit usw.) und/oder Zuschreibbarkeit zu dem, der sie als seine äussert*, IMMERZU NICHT BESTRITTEN werden können/dürfen durch angemessenes Anführen von Einwänden (anderslautender Berichte, Beurteilungen Erwägungen, die aus Sicht des Einwendenden die bestrittenen ersetzen sollen), ODER aber auf Dauer und immer wieder (spätestens nach entsprechender Kritik, Aufmerksammachen auf unsere Gründe) in diesen Äusserungen einige oder alle unsre eignen Absichten oder Vorschläge, Forderungen und/oder Erwartungen an andre Beteiligte oder Dritte (die von Beteiligten anerkannt werden sollen) mit allen daraus zu ziehenden Konsequenzen NIE ANERKANNT werden, die aus vom Sprecher selbst unbestrittenen Berichten usw. Beteiligter oder Dritter, soweit sie dem jeweiligen Sprecher bekannt sind, sowie den von ihm selbst glaubhaft äusserbaren Berichten usw. folgen.
Oder kurz: Äusserungen und ganze Gesprüche sind sinnlos, wenn in ihnen nicht kritisiert und aus begründeter Kritik keine Konsequenz gezogen werden kann oder darf.
*(dh. man glaubt ihm, dass er das Berichtete tatsächlich selber glaubt, die als seine geäusserten Urteile für richtig hält, und die als seine geäusserten Erwägungen auch wirklich anstellt)

Sinnvoll oder sinnlos zu nennen sind somit Situationen (mitsamt ihren Vorgeschichten), daraus zu erschliessende Absichten (für sich selbst, oder Vorschläge, Forderungen und/oder Erwartungen an andre), und Äusserungen in Gesprächen darüber.
Sollte es gelingen, wie oben am Ende von Abs.3 beschrieben, die Sinn-Grenze (zwischen dem, was Sinn macht oder sinnvoll ist, und dem, was nicht) für all diese drei Gebiete (Situationen, Absichten, Gespräche) „vollständig“ zu ziehen, und damit die Notwendigkeit des So-(und nicht-anders-)Sein-(Können)s aller entsprechend auszuzeichnenden Gebilde (und ihrer Zusammenhänge untereinander) nachzuweisen: Dann wäre dies die Erfüllung und zugleich Neu-Bestimmung des Programms und der Aufgabe, das und die traditionell mit dem Namen „Philosophie“ verbunden war. Dabei ist charakteristisch, dass hier, wie oft in der Tradition, die Lösung dieser Aufgabe als nur in einem „System“, also unter Einhaltung bestimmter Ordnungs- und Vollständigkeitskriterien, möglich, gedacht wird.

Zusatz: Dass „die Sprache“ und ihre Form (Logik) (oder besser, die Form (der „Einzelsprachen“), die sie ist (nämlich „Sprachlichkeit“, Logizität, die Eigenschaft, EINE SPRACHE zu sein), nicht autonome Begründungsinstanz, sondern mit den sonst durch und mit ihr begründeten „Sinn-Gebilden“ (Sinn machende Situationen; Absichten usw.) gleichursprünglich ist, heisst nicht, dass die Darstellung dieser Gleichursprünglichkeit und des Zusammenhangs zwischen den Sinn-Kriterien aller drei Gebiete nicht am geeignetsten am Leitfaden einer Darstellung der Untergliederung „der Sprache“ (Sprachlichkeit, Logik) stattfindet, einer „Grammatik“, die in diesem Zusammenhang genauer universale, logische oder philosophische heissen muss.
In meiner speziellen Version nimmt dieser Leitfaden die Form einer Besinnung an auf die Art und Weise, von (Lebe)Wesen welcher Art wie in einer vorsprachlichen Situation für welche elementaren Äusserungs-Formen Ausdrücke gefunden werden müssen, damit man sagen kann, die betreffenden Wesen hätten „eine Einzelsprache“ erfunden oder unter sich eingeführt.
Anders ausgedrückt: Sinn und Sinngrenzen lassen sich am besten darstellen auf Basis der philosophischen Grammatik (es kann nur eine geben, wenn ich recht habe), die stringenteste und überzeugendste Art der Darstellung der Inhalte der philosophischen Grammatik ist die Darstellung der aufeinander aufbauenden Einführungsbedingungen für die „Sprachspiele“ oder Äusserungsformen, deren komplette Ausbildung bedeutet, eine vollständige Einzelsprache (ohne bereits eine vorauszusetzen) ausgebildet zu haben.

5.
Nicht alles theoretische, also Begriffe auf einem bestimmten Gebiet systematisch um-, fort- und neubildende Nachdenken ist philosophisch, nicht geht es dabei immer um „notwendige“ Begriffe und ihren Zusammenhang, um letzte Gründe und notwendige Formen des Erschliessens von etwas aus gegebnen Voraussetzungen. (Sondern, wie oben schon erklärt, um Übersicht über Wissensstoff u.a.)
Und nicht immer lässt sich, schon garnicht angesichts der Ratlosigkeit, mit der theoretisches Nachdenken normalerweise beginnt, erkennen, ob man noch nur in eigener besonderer Sache „theoretisch“ Begriffe bildet (gebunden an die EIGENEN speziellen situationsgebundenen systematischen Fragestellungen, Übersichts-Interessen, und Prioritäten hinsichtlich dessen, was einem dabei wichtig und unwichtig ist), oder ob es schon um Begriffe und ihre Zusammenhänge im System geht, die „anders gar nicht gedacht werden können“ (ohne unverständlich zu sein).
Solange wir nicht ausdrücklich sagen wollen: „Es MUSS so sein und gedacht werden!“, nenne ich das begriffs(neu-, um- fort-)bildende und das eigne Begriffssystem ordnende Denken bis auf weiteres ein theoretisches; erst, wenn diese Behauptung dazukommt: „.. und so muss es auch sein (und wäre anders nicht verständlich)“, soll es speziell philosophisch heissen.
Nun gibt es, angesichts der unklaren Ausgangssituation allen theoretischen Denkens, unterschiedliche Niveaus der Fortgeschrittenheit, auf denen seine Resultate andern präsentiert werden könnten, und naheliegenderweise werden sie sich wohl in drei Gruppen trennen lassen:

1. Denken sehr nahe an seinem Anlass und Ausgangspunkt – eines, das das Ausmass des Problems erkennen lässt, auch die Relevanz – Denken also, das ein Herumsuchen ist, wie ein Bedarf gestillt, eine Verwirrung beseitigt, eine Fehlorientierung der Aufmerksamkeit berichtigt werden könnte, bis hin zu ersten Ansätzen, Ideenkeimen, Vermutungen, wie das geschehen könnte: Solch ein eher an diesem Ende der Skala sich aufhaltendes theoretisches Denken will ich (in Anlehnung an Wittgensteins Philosophische Untersuchungen) ein UNTERSUCHEN nennen.
2. Das entgegengesetzte Extrem wäre die Präsentation der fertigen Lösung eines theoretischen Ausgangsproblems, genauer, eines ganzen zusammenhängenden Feldes solcher Probleme (deren Zusammenhang mit einem Ausgangsproblem einem anfangs garnicht bewusst gewesen sein muss): und das ist dann ein Begriffssystem (verstanden als maximal expliziter, übersichtlich gemachter ausgeführter Teil (für den Ort des zu lösenden Problemfeldes) DES Begriffssystems überhaupt, in das es sich einfügt), vorgeführt mit all seinen relevanten Anwendungen und Konsequenzen: das nenne ich eine THEORIE oder THEORIEDARSTELLUNG.
3. Was auf dem Weg daziwschen liegt, also sich vorarbeitet von (subjektiv als solchen erscheindenen, mutmasslichen) Ansätzen, Lösungskeimen, Vermutungen hinsichtlich bestimmter begrifflicher Ausgangsprobleme (Verwirrung, Mangel, Fehlorientierung eines bestehenden Begriffssystems an zumindest einer Stelle) hin zu dem Zustand, wo man glaubt eine Theoriedarstellung geben zu können, wenn man sie denn ausarbeiten wollte, nenne ich ÜBERLEGUNG.

6.
Die hier präsentierten Texte enthalten, nach diesem Sprachgebrauch, Überlegungen und nur solche; ob nur theoretische, oder auch philosophische, muss vorerst unentschieden bleiben.
Der Beginn jedenfalls ist ein rein subjektiver, und kein notwendiger; der Beginn ist also nicht philosophisch (denn da müsste es gerechtfertigt werden, warum man so und nicht anders anfängt, „weil es sonst nicht verständlich wäre“).
Diesen Überlegungen gingen bei mir somit „Untersuchungen“ und Arbeitsblätter voraus, die zu mehr oder weniger starken VERMUTUNGEN und theoretischen Skizzen oder Ideen führten, die wieder den Startpunkt der Überlegungen bildeten.
Diese Untersuchungen setzten nicht nur mit eigenen Problemstellungen ein. Viele Verwirrungen, die mich ins Grübeln stürzten, und oft genug zur Verzweiflung trieben, hatten mit meiner persönlichen Rezeption von Texten der philosophischen und geistes- und sozialwissenschaftlichen Tradition zu tun, die meist weithin, wenn auch nicht generell anerkannt waren (anders gesagt, sie wurden bestritten, waren umstritten).
Dabei fiel mir immer wieder auf, wie schnell sich andre mit Zustimmung oder Kritik zufriedengaben – wie wenig ihnen an Begründung, für oder gegen, genügte. Umgekehrt machte ich selbst die Erfahrung, welch unendliche Mühen (in Gestalt von typischen „Untersuchungs-“ Grübeleien) erforderlich waren, um auch nur zu einer Ahnung zu gelangen, wie die Auflösung all dieser Konfusionen und Widersprüche aussehen könnte, in die sich die Teilnehmer an den etablierten „Diskursen“ regelmässig verstrickten.
Die klassischen Untersuchungen für mich, und zugleich der einzige Text der Tradition, mit dem ich je etwas anfangen konnte, waren Wittensteins (und auch einiger anderer: Ryle’s, Austins) philosophische Untersuchungen und Bemerkungen. (In der philosophischen Tradition könnte ich als weitere Beispiele für dies Genre, nur der Form nach, etwa die philosophischen Tagebuchnotizen Berkeleys anführen – oder auch Dialoge Platons; Überlegungen, in meinem Sinn, findet man vielleicht eher bei Aristoteles und Fichte, Heidegger oder Max Weber. Vielleicht ist das Numerieren von kleineren Textabschnitten das Leitsymptom der Überlegungen – der Autor behält sich vor, am Ende des letzten Abschnitts weiterzuarbeiten, oder aber neu einzusetzen, und die Problemlösung von einer andern Seite her anzugehen. Abgesehen von „Problem- vs. Systemdenker“, spiegeln sich Annahmen über die womöglich kategoriale Notwendigkeit solch unterschiedlicher Ausarbeitungs- und Reifegrade in Schulen und Theorie-Traditionen in etablierter philosophischer Terminologie kaum wider. Als ob es sich um persönliche Eigenheiten der Autoren handeln würde, statt um Ausdrücke objektiver Schritte in der Begriffsbildung von Kulturen, Epochen, Traditionen.)
Viele Werke der geistesgeschichtlichen Tradition, die auch heute noch ihre Anhänger haben, erschienen mir hingegen auf eine seltsame (um nicht zu sagen: zutiefst verwirrende und verstörende) Weise unaufrichtig. Das galt ganz besonders für die ANFÄNGE der jeweiligen Argumentation – oft gab es da einen eklatanten Fehler; dessen Zustandekommen, angesichts des sonstigen Scharfsinns der Autoren, fast kaum erklärbar schien; zumal er in Kommentaren oder Besprechungen nie als solcher erwähnt wurde. Meist sollten solche Fehler auch etwas möglichst elegant (wenn auch ein bisschen ungenau: darin bestand die von mir unterstellte Unaufrichtigkeit) einführen und als anfangende Setzung begründen, für das es bei den offenkundigen Vorgängern der jeweiligen Autoren längst andere Argumente gegeben hatte; die Auffassung, die dann so fadenscheinig und nachlässig-fehlerhaft eingeführt wurde, stand also für die Leser oder Zeitgenossen ebenso wie die Autoren selbst mehr oder weniger fest. Einsprüche dagegen hatte es erst danach gegeben: so die subjektive Wert- oder Grenznutzentheorie etwa im Fall von Marx (als Vollender der klassischen Ansätze, speziell der Werttheorien von Smith und Ricardo), oder die Auffassungen von Wahrnehmung des Behaviorismus etwa im Fall von Kant (der den latenten Idealismus und das „Transzendental-Philosophische“ (avant la lettre) der gesamten, gerade auch der empiristischen, mentalistisch-bewusstseinstheoretischen Tradition seit Descartes (wenn nicht viel früher) beerbt hatte). Die späteren Einwände der jeweiligen kritischen Observanz waren dann aber auch nicht perfekt; die anschliessenden Debatten führten in immer tiefere Konfusionen und Probleme, was wiederum viele theoretisch Interessierte nicht zu verstärkten Anstrengungen motivierte. Die Parteien der Kontroversen verschanzten sich stattdessen, seltsamerweise, mit ihrer Position immer stärker, und es schien, dass die Kontroversen, bei grosser wechselseitiger Abscheu und Verachtung, oft garnicht mehr weiter ausgetragen wurden. Darin erinnerten diese Debatten ein wenig an die zwischen Konfessionen. Tatsächlich erwies es sich, für mich überzeugend, dass die betreffenden Theorien allesamt Derivate religiöser Denkformen und Einstellungen waren. Um das zu begreifen, brauchte ich allerdings zwei Jahrzehnte.

7.
In mancherlei Hinsicht steht die korrekte Rekonstruktion und Aufdeckung der Fehler des religiösen Denkens, in all seinen Spielarten, im Zentrum meiner eigenen theoretischen Bemühungen, und bildet etwas wie den Dreh- und Angelpunkt des „Systems“, das mir vorschwebt.
Es gibt da eine genetische, wenn nicht genealogische Reihe, worin die Religion eine Durchgangsstelle besetzt – ihr voraufgehend (wenn es denn sowas gab), „woraus“ sie entstanden ist, oder wovon her der Übergang zu ihr stattfand; ihr nachfolgend, „wozu“ sie wird, wenn sie vergeht, oder in das sie übergeht. Nichts an diesen Zusammenhängen war mir im geringsten klar, als ich begann, mehr als sporadisch über religiöses Glauben nachzudenken. Zu dieser Zeit hatte ich eigentlich ein anderes Hauptthema, nämlich: Was heisst es, eine (Einzel)Person, und „vernünftig“, „zurechnungsfähig“, „verantwortlich“ usw. zu sein? Was sind die Kriterien dafür, dass man es ist – oder aufhört, es zu sein? Die Verknüpfung mit dem Glauben ergab sich schnell in Gestalt der Frage, wie man es sollte erklären können, dass ein und dieselbe Vernunft zunächst vereinbar sein sollte damit, dass nicht religiös geglaubt wird – dann, dass es geschieht (und für das einzig vernünftige gehalten wird) – und dann wieder nicht mehr (und das ebenso vernünftig erschien)? Der einzige Begriff, der imstande sein könnte, die Idee einer übergreifend alle „Personen“ durchgehend verbindenden (ihnen gemeinsamen) Vernunft mit diesen geschichtlichen Wandlungen zu versöhnen, ist der des LERNENS: Vernunft muss als kulturelle (dabei Erfahrungen verarbeitend, die von ganzen Gesellschaften über mehrere Generationen hinweg gesammelt und tradiert wurden) Lernfähigkeit und -disposition aufgefasst werden; und zu den Themen, an denen sich dies Lernen abspielte, muss das Selbstbewusstsein, was Vernunft ist, wesentlich mit gehören – nur so lässt sich erklären, dass zu verschiedenen Zeiten so Verschiedenes Vernunft genannt, und mit Vernünftigkeit für vereinbar erklärt werden konnte, ohne das Konzept einer durchgehend gemeinsamen Vernunft aufzugeben. Was aber durch die Geschichte hindurch galt, galt erst recht für die Gegenwart: In angemessen abgewandelter Form scheinen ja heute alle Mentalitäten aller Zeiten (unerledigt, unverstanden, wie sie sind!) gegenwärtig, und im unmittelbaren Kontakt zueinander. Wie dramatisch und obendrein überaus praktisch bedeutsam wird da nicht erst die Frage nach dem uns allen Gemeinsamen, und den Gründen der Unterschiede zwischen uns aufgeworfen!
Auch der (aus meiner Sicht) herkömmliche Begriff von Person, Vernunft, Zurechnungsfähigkeit, „Intelligenz“ usw. erwies sich, jenseits seiner Verwurzelung in der cartesianisch-mentalistischen Bewusstseinstheorie (und ihren Weiterungen, bis hin zu Hegel und Sartre), als ein Abkömmling religiösen Denkens. Und so erging es mir mit den anderen grossen Rätseln, denen ich im Lauf meines Aufwachsens begegnet war: dem für mich völlig unbegreiflichen Denken der Ökonomen; der Theorie und Praxis, die sich um die Zentralbegriffe „Liebe“ und „Geschlecht“ herum aufbaute; dem Glauben an überlegne „Intelligenzen“ und Autoritäten, die es besser wüssten als andre, was man, ohne es zu prüfen, glauben (und an bestimmten einfachen Prüfkriterien, feststellen) sollte – oder, die für einen entscheiden zu lassen, dank ihrer überlegenen Weitsicht, nur gut für einen wäre, umgekehrt gehörte auch der politische Glaube an (geborene) Träger eines greifbar Schlechtesten, die man womöglich auch noch leicht ausfindig machen (an ihren äusseren Merkmalen erkennen) konnte, also Stigmatisierung nicht weniger als die voraufgehende Idealisierung, in dieses Umfeld; schliesslich, die Art, wie die grundlegenden Lebensformen der Moderne, Wissenschaft, technischer Fortschritt, der Berufstätigen- und Spezialistenalltag, und all die Wunscherfüllungszonen jenseits davon, Kunst, Sport, Unterhaltung, das zeitlich und geographisch Ferne, als unbestimmter Steigerungen und Entgrenzungen, Beschleunigungen und Macht-Entfesselungen fähig vorgestellt wurden, die, wie sich für mich schlagend zeigen liess, nicht nur äusserlich an Religion, ihre Inhalte und die Formen des Umgangs damit, erinnerten. Vergleichbares galt für die davor genannten Denkformen; und so für alles, was im Bereich des politischen oder psychologischen Denkens an Gedankengebilden begegnete, die typischerweise Personen (zumindest Ausnahme-Personen) Unbestimmt-Weitergehendes als das ihnen im Rahmen ihres kulturellen Lernens Leistbare zutrauten – ohne Gründe anzugeben, wie und wodurch sie je zu diesen Selbst-Überbietungen und -Steigerungen instandgesetzt werden könnten.

8.
Bei alldem war immer auch zu beobachten, dass der zentrale Begriff des Religiösen, aus meiner Sicht, bis heute keine Definition erhalten hat, die ihn als kategorialen, und unter gewöhnlichen Umständen nicht vermeidbare Durchgangsstufe des kulturellen, geschichtlichen Lernens ausweist. (Als weiteres Anzeichen dieser Unbestimmtheit, Unklarheit, Undefinierbarkeit des Religionsbegriffs kann die vor einiger Zeit bemerkte Unmöglichkeit gelten, Religion, magisches Denken/Aberglaube, Metaphysik, vormoderne (wie Astrologie, Alchemie) und moderne Wissenschaft voneinander abzugrenzen; auch Begriffe wie „Entzauberung der Welt“ oder der Unterschied von Moderne und Vormoderne werden trennscharf nur im Mass, wie man sich über die exakte Bedeutung dessen Rechenschaft gibt, was religiöses Denken als ein eigenes, mächtiges, überzeugendes und nichtsdestotrotz überwindens-bedürftiges, auszeichnet. Die Aufklärung ist, wie mir scheint, dieser Frage durch Soziologisierung, Banalisierung, Psychologisierung des Religiösen ausgewichen; und darum an der Aufgabe gescheitert, eine Kritk oder kritische Rekonstruktion des relgiiösen Denkens zustandezubringen. Aber entgegen der Annahme vieler hat sich die Aufklärung dieser Aufgabe vielleicht garnicht gestellt und stellen wollen.)
Freilich war das Thematisieren vormoderner oder moderner Verhältnisse zur Welt nicht mein Ausgangspunkt gewesen. Vielmehr hatte ich anfangs nur die Formen politischen Denkens (also des Nachdenkens über die Art der Verhältnisse, die jemand zu anderen Leuten einnahm, deren Weltverhältnis an entscheidenden Stellen vom seinigen abwich) ins Auge gefasst – politisch-soziale Verhältnisse, von denen ich ganz selbstverständlich annahm, dass sie unabhängig vom jeweils vertretenen Verhältnis zur Welt (Weltbild, Strategie für Wissenserwerb usw.) ausgebildet würden. Dass man das Politische (so, wie ich) als Problem eigener Art entdeckte, und somit über den naiven Standpunkt hinauswuchs, das Weltverhältnis sei der einzige Inhalt von Rationalität, schien mir damals die einzig entscheidende Fortschrittsrichtung zu sein. Und entlang dieser Reihe immer fortgeschrittenerer Standpunkte sollte sich dann auch ein immer weiter sich ausdifferenzierender Begriff entfalten von dem, was eine Person ausmacht.
(Eine solche Entfaltung und Entwicklung ist selbstverständlich nur für den BEGRIFF VON „Personsein“ anzunehmen; es besteht kein Zweifel, dass man Person ist und sein kann, ohne einen solchen (genauen) Begriff davon ausgebildet zu haben, was das heisst.)
Die blossen „Weltverhältnisse“ (in denen andere Personen, die doch auch ein Verhältnis zur Welt hatten wie man selbst, zunächst womöglich nur als Welt-Teile vorkamen – behandelt nach denselben Prinzipien wie andre Weltteile, Weltdinge, auch), die am Anfang der Reihe standen, erwiesen sich dann aber beim näheren Hinsehen als mächtige kognitive Formationen; nicht nur waren sie extrem vielfältig und wandelbar – auch die Mängel ihrer Ausdehnung auf Personen (als wären sie Weltdinge, wie andre auch) waren nicht leicht zu durchschauen. Vor allem aber: Man konnte sein politisches Denken entwickeln, andre Personen als Träger von Einstellungen auf demselben Niveau wie die eignen wahrnehmen lernen – und dennoch sein Weltverhältnis, etwa ein religiöses, beibehalten. Mit anderen Worten: Die Entwicklungs- und Fortschrittslinie der Verhältnisse, die im Verlauf der Geschichte ebenso wie in individuellen Bildungsgängen zur Welt einerseits, und zu Personen andererseits eingenommen wurden, spalteten sich auf, und gingen in verschiedene Richtungen: Der Begriff von sich und seinesgleichen als „soundso sich auf die WELT beziehend, soundso Wissen erwerbend usw.“ entwickelte sich in der Geschichte (und in den sie nachvollziehenden individuellen Bildungsgängen) anders als der Begriff von sich und seinesgleichen als „in denundden Hinsichten seines Weltverhältnisses mit anderen PERSONEN (bzw. deren Verhältnissen zur Welt) vergleichbar (und möglicherweise von ihnen abweichend)“.

9.
Dabei hatten die Weltverhältnisse und ihre Entwicklungsreihe, so wie ich sie mir dachte („vorreligiös (vgl. „Normalität“, „normal-planerisch), religiös, nachreligiös“ („Moderne“, „modern“)), eindeutig den Vorrang. Die Verhältnisse zu anderen waren ja nur Vergleiche zwischen einem selbst und diesen andern, zwischen eigenen Standpunkten und möglichen Abweichungen, Abwandlungen davon. Im Nachdenken darüber, welche dieser Standpunkte der Welt, so wie man sie selbst kannte, gegenüber angemessen waren oder nicht, war aber das reflektierende Subjekt auf sich selbst und sein eigenes Weltverhältnis zurückgeworfen: Indem es über die Weltverhältnisse anderer nachdachte und deren Berechtigung prüfte, dachte es ja zugleich über seine eigenen Möglichkeiten nach (denn die Möglichkeit, sich die Weltverhältnisse anderer zueigenzumachen, und das eigne aufzugeben, bestand immer). Und erst mit dieser Betrachtungsweise wäre dann auch das Bewusstsein von sich, als einem Lernenden, der durch Dazulernen Standpunkte verändert und vor allem ausdifferenziert, erreicht worden; und damit die Frage, ob und wieweit man weitere Lernschritte begrifflich, gedanklich, vorstellend, vorwegnehmen könne; vor allem auch, wo dies Lernen endgültig an Grenzen stossen würde, die ihm ein Ende setzten – ihm, und damit den Möglichkeiten, auf sinnvolle Weise noch länger Person zu sein.
Dem Begriff des eigenen Lernens entspricht, politisch, der Begriff des Vermittelns der (aus eigner Sicht) relevanten Inhalte dieses eigenen Lernens an andre – des Überbrückens von Defiziten, Zurückgebliebenheit (aus Sicht des Vermittelnden) bei anderen. Aber dazu muss der sich und seinen Standpunkt Vermittelnde einen sehr genauen Begriff haben von der Art, wie er selbst gelernt hat, und welche andersgearteten Schritte aus vergleichbaren, aber auf den ersten Blick anderen Ausgangssituationen zum gleichen oder vergleichbaren (nur indifferent vom egnen abweichenden) Resultat führen. Nur aus solchem vergleichenden Verstehen kann man ja andren eigenes zu vermitteln versuchen; und nur aus einem Begriff davon, wann alles Vermittelbare vermittelt, alle möglichen Versuche stattgefunden haben, kann man eine Rechtfertigung dafür ableiten, dass man diese Versuche abbricht – darum, weil die Adressaten offenbar jenseits einer Grenze sich aufhalten, innerhalb deren man ihnen gleiche (kulturelle) Lernfähigkeit, Lernfähigkeit wie bei einem selbst, zuschreiben kann.
Nur wer sich selbst und seinen Standpunkt als Resultat eines komplexen historisch-kulturellen Lernprozesses ansehen kann, kann diesen Begriff (oder besser, diese Kategorie) auf andre anwenden. Ein solcher fortgeschrittener Begriff von der eigenen Entwicklung ist frühestens von religiös Denkenden zu erwarten – sie sind die ersten in der Geschichte, die in Gestalt der von ihnen selbst bis zur Ausbildung ihres Standpunktes zurückgelegten Entwicklung eine Ahnung davon entwickeln können, dass es Geschichte, als Standpunkt- und Mentalitäten-Entwicklung, als Lernprozess und fundamentale Änderung von vormals Selbstverständlichem, überhaupt geben kann. Damit ändert sich nicht nur das eigne Verhältnis zur Welt, und das zu Weltverhältnissen der andern – vielmehr, die Vermittlungsstrategie ändert sich (differenziert sich); und damit die vorläufigen Verhältnisse zu denen, die bis auf weiteres als lern- und entwicklungsfähig unterstellt werden müssen, aber ihre Lernschritte noch nicht absolviert haben.
So hängt vom Fortschritt der Weltverhältnisse der Fortschritt in den politischen Einstellungen fundamental ab; es kann niemand politisch fortgeschrittener denken, als es seinem welt-bezogenen Standpunkt entspricht.

10.
Auch für diese (vermeintliche) Einsicht lieferte mir mein vertieftes Nachdenken über Religion den Schlüssel; und noch für eine weitere. Denn im Zusammenhang mit meiner politischen Ausgangsfragestellung war mein Hauptinteresse gewesen, herauszubekommen, in welchen Hinsichten Menschen überhaupt verschieden denken, verschiedener Meinung sein können – so, dass es für sie selbst einen entscheidenden Unterschied macht – und so, dass sie den Eindruck haben können, dass sie sich in diesen Hinsichten niemals würden einigen können. Ich hatte die möglichen Richtungen der Nicht-Einigung bald schon für mich zusammengefasst und versucht, sie in ein System zu bringen (um sicher zu sein, dass es alle sind); und das warf folgende drei Fragen (im Sinne des theoretischen Ausgangsproblems, s.o.) auf:
a) Gibt es vernünftige Zielsetzungen oder „Interessen“, derart, dass bei einem gegebnen Wissens- und Erfahrungsstand jemand sein Interesse korrekt, angemessen aus diesem Stand abgeleitet hat (oder das auf diese Weise abzuleitende Interesse verfehlen kann)? Gibt es überhaupt, und wenn ja, welche verschiedenen Arten oder Regeln oder Strategien gibt es, Interessen abzuleiten aus Erfahrungsständen (die Aussenstehende berichtet bekommen könnten, so dass sie jemandes Interesse, nach dieser Art es abzuleiten, bestimmen könnten, genau wie der Betroffene selbst)?
b) Und: Selbst wenn es solche Arten der Bestimmung vernünftiger Ziele oder Interessen tatsächlich gibt, soweit es sie gibt, und wenn es DIESE sind: Können dann jemals überhaupt zwei Menschen das GLEICHE INTERESSE haben? (Umgekehrt: was ist die Quelle der Verschiedenheit von Interessen – jenseits von Erfahrungsständen und Arten der Ableitung?).
c) Und selbst wenn und soweit sie gleiche Interessen hätten, und die benennbar wären: Könnte man den Betroffenen das mit vertretbarem Aufwand VERMITTELN – würde die Vermittlung dieser Erkenntnis, selbst wenn sie zuträfe, nicht zu umständlich sein, und würde sie nicht nur in Ausnahmefällen einmal gelingen können? (Umgekehrt: Welche Arten der denkbaren Vermittlung von zutreffenden Erkenntnissen (wenn es sie denn gäbe) über Gleichheit und Ungleichheit von Interessen, bei gegebnen Erfahrungsständen, würde es geben?)
Indem hier so ausdrücklich Interessen, vernünftige Ziele als dasjenige benannt wurde, das aus Erfahrungsständen folgen soll, gab es in diesem Konzept auch eine klare Trennung zwischen Sachverhalts-Einschätzungen, die Akteuren zugeschrieben werden sollten, und ihren Zielsetzungen und Entscheidungen. Wieder war es das Nachdenken über Religion, erst recht aber das über die vor-religiösen Mentalitäten, durch das ich davon überzeugt wurde, dass alles Handeln vor allem Versuchshandeln, Experimentieren ist – angesichts der objektiven Ungewissheit über die Randbedingungen unserer Existenz; dass wir beim Planen und  Entscheiden nicht so sehr Ziele, als vielmehr blosse Versuche gestalten und uns und andre auf sie festlegen; und dass Konflikte somit am korrektesten beschrieben und rekonstruiert werden müssen als solche, die sich um Vorschläge für die Wahl des Versuchs drehen, den eine Gruppe, die sich darum streitet, als den aus Sicht einer der Konfliktparteien für alle Beteiligte nächst-lohnendsten ausführen sollte.

11.
Das ist ein extrem wichtiger Zwischenschritt; denn nur, wenn das GESAMTE Handeln (als ein grundsätzlich experimentierendes, versuchendes, und darin fortschreitendes) unter den Lernbegriff subsumiert werden kann, wird die Auffassung von Geschichte als Lernprozess denkbar. Darin ist eingeschlossen: Dass nicht nur die Erfahrungsstände, sondern auch die „Arten oder Regeln oder Strategien, Interessen aus ihnen abzuleiten“ aus Punkt b) oben diesem Lernprozess unterliegen. Und es folgt: Wenn das gesamte Handeln ein vernünftiges, und vernünftiges Handeln nichts als ein Vernunftsregeln-gemässer Umgang mit wachsender Erfahrung ist: Dann muss sich Vernünftigkeit im Kern als eine Lernregel, Lernfähigkeit, Lern-Disposition darstellen (wobei hier Lernen soviel bedeutet wie: Wissen erwerben, unabhängig davon, ob es zu erwerben beabsichtigt war (man danach gesucht hat zB.) oder nicht). Das Vermitteln nach c) aber löst sich dann auf in die Vermittlung der angemessenen, weil dem Andern gerade fehlenden, nächst von ihm zu erwerbenden Erfahrungen.
Wenn nun Vernunft im Kern eine Lern-Disposition, und die Geschichte im wesentlichen die Geschichte kulturellen Lernens ist – wie lassen sich dann, auf dieser Basis, die Schritte aus Abs. 7 verstehen, nämlich „dass ein und dieselbe Vernunft zunächst vereinbar sein sollte damit, dass nicht religiös geglaubt wird – dann, dass es geschieht (und für das einzig vernünftige gehalten wird) – und dann wieder nicht mehr (und das ebenso vernünftig erschien)?“ Wenn sich das Urteil, was vernünftig ist, hier so sehr wandeln kann – dann wohl auch der Begriff Vernunft, Vernünftig-Sein selbst. Und wenn in diesem Begriff doch nur das gedacht und benannt wird, was die, die ihn denken, längst (letztlich: durch ihre biologische Anlage; durch die Ausbildung der Sprache, auf Basis dieser Anlage, als Grundlage jeder kulturellen Tradition und Entwicklung) SIND: Dann muss es offenkundig eine höchste Ebene allen erfahrungs-abhängigen, -begründeten, -gesteuerten Lernens geben: Nämlich die fortschreitend immer genauere BESTIMMUNG oder Definition dieses Begriffs dessen, was man selbst ist – also nicht nur, dass man ein (kulturell) Lernender ist, wenn man vernünftig, Person, intelligent, zurechnungsfähig usw. ist – sondern, es wird offenkundig entlang Erfahrung auch immer genauer bestimmt, was es HEISST, zu lernen. Von Anfang an traf dieser Begriff auf die Vernünftigen zu; von Anfang an war dieser Begriff einer und nur einer, nämlich wie er später bestimmt wurde. Was ändert sich dann überhaupt, mit zunehmender Erfahrung? Ich meine: Die Klarheit, mit der das, was eigentlich schon feststeht, gedacht wird, benannt wird, gesagt werden kann – so, dass es sich im Handeln niederschlägt. Und was bedeuten dann wieder „Unklarheit“ und „zunehmende Klarheit“? Das, was die Vernünftigen am Anfang über sich und ihresgleichen denken – was sie sind, was Vernunft, vernünftiges Handeln usw. ausmacht (derart, dass man mit guten Gründen sagen kann, wann es vorübergehend oder dauerhaft verlorengegangen ist): Es trifft zu, es ist erst einmal hinreichend richtig; aber nicht genau genug.
Die Anfangsbestimmungen der durchgehend Vernünftigen für ihr Vernünftigsein sind hinreichende; zunehmende Fälle, die in ihrer Erfahrung vorkommen, motivieren sie, dies Hinreichende genauer, also eingeschränkter durch zusätzliche Bestimmungen des fürs Vernünftigsein Hinreichens zu denken. Der Fortschritt besteht also in einem PRÄZISIEREN, einem EINSCHRÄNKEN und genauer, nämlich reichhaltiger Bestimmen des zwar Hinreichenden und Zutreffenden, aber auf zuviel Fälle Zutreffenden. Fälle, an denen dieser Unterschied auffällt, motivieren dazu, sich auf den Begriff zu besinnen, und die zusätzlichen Bestimmungen zu benennen, die den Ausschluss des zunächst unter den Begriff Fallenden, aber nicht Mit-Gemeinten, zur Folge haben.
Aber auch die fortgeschrittenste Angabe dessen, was hinreicht, zusammen mit fortgeschrittenen Angaben darüber, was NICHT hinreicht, da ihm etwas fehlt, ist keine DEFINITION des Vernünftigseins: Die Benennung dessen, was GENAU und ausschliesslich zum Vernünftigsein eines Wesens an Eigenschaften benötigt wird.
Eine solche Definition (die Selbst-Erkenntnis, die sich in ihr ausdrückt) wäre zwar, in gewissem Sinn, ein Kulminationspunkt in der Geschichte; aber nicht ihr Ende. Denn zu jeder notwendig-hinreichenden Bestimmung lassen sich die notwendig-hinreichenden Bestimmungen (Definitionen) der Einzel-Bestimmungen (Kriterien, Merkmale, Eigenschaften) angeben; von jeder in einer Definition angeführten Bestimmung (Eigenschaft,Begriff, Merkmal, Kriterium) kann gefragt werden: Und was heisst DAS wieder? Und was wären notwendig-hinreichende Merkmale DAFÜR?
Das Selbst-Bestimmen geht also in diese Richtung weiter; ob es beliebig weitergeht, und wie weit es gehen könnte, darüber kann an dieser Stelle zunächst noch nichts gesagt werden.

12.
Eine Gemeinschaft vernünftiger Wesen kann also, aus ihrer Sicht, hinlänglich bestimmt haben, worin die Vernünftigkeit besteht, die ihr (und anderer Vernünftiger) Handeln kennzeichnet (dies als allgemeingültiges Prinzip zu denken, wäre bereits eine sehr weitreichende Leistung). Die Bestimmung erlaubt es, zu handeln; Fälle, auf die sie nicht zutrifft, und die man durch eine Präzisierung der Bestimmung ausschliessen müsste, sind nicht zu erkennen. Warum also sollte man bei diesem Begriff seiner selbst nicht stehen bleiben? Die grossen Epochen der Geschichte als ein solches Stehenbleiben zu begeifen, das Nicht-Darüber-Hinauskommen-Können ohne Anlässe, bloss aus eigener Kraft, als entscheidendes Hindernis für die heute noch in solchen Epochen Stehen- und Steckengebliebenen: Das hätte weitreichende Folgen für Verständigung weltweit. Noch weiterreichende Folgen hätte es, wenn der Kulminationspunkt erreicht würde, und mit ihm (denn das müsste er enthalten!) das Bewusstsein von ihm als dem erreichten Kulminationspunkt – jener Punkt, von dem aus man auf die Abfolge der notwendigen Haltepunkte zurücksehen könnte, an denen die menschliche Entwicklungs-Geschichte, das kulturelle Lernen  notwendig stehenbleibt, weil es zum Weitergehen erst einmal keinen Anlass gibt. Klarheit über die Art der Anlässe, die historisch dann doch weitertrieben, und der je nächsten Stufen, die dabei jeweils erreicht werden, würde es erlauben, die Angehörigen jeder Stufe, Schritt für Schritt, vom Standpunkt des Kulminationspunktes aus zu ihm hinzuführen – der Weg, der vom Anfang der Kulturentwicklung bis hin zum Punkt ihrer weitestreichenden Selbsterkenntnis führt, würde im Rahmen planmässiger gesellschaftlicher Verständigung unübersehbar oft gegangen werden – in nachholenden, von aussen, vom Ziel her sanft und zwanglos angestossenen, angeregten individuellen Bildungsprozessen – bis der gesamte Weg gangbar gemacht, die Routinen bereitliegen, um auch die Nachwachsenden ans Ende der Entwicklung gelangen zu lassen, die jedesmal, mit Erwerb der Sprache, am Anfang der Geschichte starten und deren Resultat als persönlichen Bildungsgang wiederholen müssen. Erst eine Gesellschaft und Kulturstufe, die sich in dieser Weise (wie es erst am Kulminationspunkt der Fall sein kann) ihres eigenen Werdegangs und seines Resultats bewusst ist, und dies Wissen allen Zurückgebliebenen vermittelt, und mit ihnen auf vielfältigste Weise durchgearbeitet hat, kann beides, Gang und Resultat, zuverlässig als Bildungsprozess beschleunigt ihren Nachkommenden tradieren, und so das von ihr Erreichte gegen sein notwendiges Zurückfallen in frühere Stadien sichern.
Erst dann ist kollektive Erfahrung und ihre Verarbeitung möglich; erst dann ist es möglich, in diesem Sinn, wie Marx es ausdrückte, die Geschichte SELBST zu MACHEN, den Lernprozess, der sie ist, geplant und überlegt, mit Wissen aller Beteiligter, verlaufen zu lassen. Erst dann auch ist die Prähistorie, in der wir bis heute stehen, zuende, begriffen, bewältigt, und nachhaltig zuverlässig überwunden.

13.
In diesen Sätzen ist eine fundamentale Kritik der gegenwärtigen Epoche angedeutet: Sie begreift sich weder im geringsten selbst, noch ihr eignes Zustandekommen, was daran notwendig so sein musste (um weiterzukommen; worin dies Weiterkommen bestand), was zufällig war; sie begreift die Art ihrer Fortgeschrittenheit über die Vor-Epochen so wenig, wie sie deren Zurückgebliebenheit beschreiben und sich davon genaue Rechenschaft geben kann. Und selbstverständlich hat sie nichts weniger als Kontrolle darüber, ob die Errungenschaft, die sie darstellt, sicher tradiert wird, und nicht, durch mehr oder weniger unaufhaltsames Zurückgleiten in überwundene Positionen, wieder verlorengeht und auf dem gleichen Weg wie frühere Male, womöglich mehrfach, wieder und wieder, neu erarbeitet werden muss. Das Nichtbegreifen der eigenen Stellung gegenüber anderen und, umgelehrt, der notwendigen Borniertheit in der Stellung  der andern zu einem selbst hat vielfältige Missverständnisse und vor allem Konflikte zur Folge. Der Mangel an Verständigtheit schlägt fürchterlich durch auf alle Versuche von Gesellschaften regional und weltweit, ihm zum Trotz, mit- und gegeneinander Vorhaben umzusetzen, oder dauerhafte Formen des Zusammenlebens, trotz aller Gefälle und Gegensätze, zu etablieren. Mit den Mitteln, die da in Gang gesetzt werden (und die ihrerseits immer neuer Ausdruck der zugrundeliegenden Mängel im Verstehen und Verständigtsein sind), kann es nicht gelingen; nur die Fallhöhen wachsen, nur die Ausgangsniveaus für unvermeidliche künftige Abstürze werden in verzweifelten Anstrengungen immer höher geschoben.
Eine Politik und Ökonomie, die auf so unzulänglicher Basis glaubt etwas ausrichten zu können, wie im Fall der Regierungen, Verwaltungen, Öffentlichkeiten, Wirtschafts-Eliten und Wahl-Bevölkerungen der „fortgeschrittenen“ Industrienationen, könnte nur als völlig entgleist, verantwortungslos und  fahrlässig angesehen werden: wenn nicht auch das Politische seine Epochen und vermeintlichen Haltepunkte hätte, in denen die grundsätzlichen Probleme nach bestem Wissen und Gewissen gelöst scheinen, und nichts auf kommende Schwierigkeiten hindeutet (die im Rückblick, wenn Anlass bestand, wenigstens nachträglich darüber nachzudenken, als unvermeidlich erkannt werden).
Aber die Stellung der Gesellschaft in und zur Welt, ihre gesamte Produktionsweise, ihre Stellung zu (vorhandenem) Wissen, (bedrohlicher) Ungewissheit und (notwendigem) Wissenserwerb, dem Um- und Dazu-LERNEN, hängen vom Stand ihres Sich-Selbst-Begreifens und -Bestimmens ab – vor allem in den unzulänglichen „prähistorischen“ Phasen dieses Sichbestimmens. Der Kern des Selbstbestimmens ist die Bestimmung seiner selbst als auf eine bestimmte Art Lern-Fähiger, Lern-Bereiter, zum Lernen Entschlossener (und darauf Angewiesener) – der kulturelle Lernprozess, den das so mehr oder weniger zulänglich bestimmte Selbst durchläuft, ist somit im Kern ein durch die Stufenfolge immer korrekterer epochaler Selbstbestimmung sich entfaltendes LERNEN WIE ZU LERNEN IST.

14.
Das hier entworfene Epochenschema überschneidet sich mit ähnlich formulierten der Vergangenheit, die, in der ein oder anderen Weise, ein religiöses und ein ihm vorausgehendes Stadium der (Geistes-)Geschichte vorsehen; dem religiösen folgt dann die rationale und aufgeklärte Gegenwart. Über die Rechtfertigbarkeit solcher Stadien-Konzepte kann hier noch nicht entschieden werden, wichtig ist aber, dass in meiner Rekonstruktion und Einteilung des Geschichtsverlaufs auch die Gegenwart als Vergangenheit und Epoche behandelt wird, ihr somit eine fundamentale Kritikwürdigkeit und Überwindungs-Bedürftigkeit bescheinigt wird. Entscheidend für diese Kritik ist die Einsicht, dass die Moderne sich keine Klarheit über die Stellung des vernünftigen Selbst, der Person, also von UNS, in oder gegenüber der Natur verschafft hat; die Unbestimmtheit dieser Stellung ist ein fundamentaler Mangel in der Selbst-Bestimmung oder Definition des Selbst (der Vernunft usw.), der sich bis in die Moderne durchhält. Wer diesen Mangel im Ansatz erkennt, begreift dann auch, warum mit der erfolgreichen Überwindung der Moderne, also dieses Mangels ein Kulminations- und auch Konvergenzpunkt der historischen Entwicklung erreicht ist.
Kulminationspunkt: Denn von ihm ausgehend, wird die Geschichte reflexiv, von ihrem fortgeschrittensten Punkt aus zurückgehend, aufgerollt – nicht nur in ihren vergangenen Zeugnissen freilich, sondern in dem, was von ihr gegenwärtig, weil unverstanden und unerledigt ist. Erst ein Gang durch die gegenwärtige Kultur und ihre Vorgeschichte aber führt zurück zur Natur; es gibt kein unvermitteltes Zugehen, Zugreifen auf sie, keine ahistorische, kulturferne Form der Selbstbestimmung, die Disposition zum kulturellen Lernen (und zur Entwicklung der Sprache, wenn und soweit sie nicht schon bereit liegt, als erstem und grundlegendstem Schritt dieses Lernens) IST unsere NATUR, und dieser Sachverhalt erschliesst sich (man wird endgültig motiviert, ihn zu denken und sich von seiner Notwendigkeit oder Unentbehrlichkeit, also Kategorialität – seinem notwendigen Gedacht- und Notwendig-SO-gedacht-werden-Müssen – zu überzeugen) erst durch die Stufen-Reihe der Anschauungen, die sich im reflektierenden Zurückgehen zum historisch je nächst-zurückgebliebenen Standpunkt erzeugt). – Die Überwindung der Moderne ist zugleich ein
Konvergenzpunkt: Denn es gibt zwei Arten der Unbestimmtheit in der Bestimmung (im Sinne von Explikation) dessen, was man ist, und von beiden war schon die Rede: einmal jene, wo man von dem, was man ist, zu wenig benennt; man ist dies zwar IMMER AUCH, aber in spezieller Weise; dies Spezielle, Hinzukommende wird nicht benannt. Diese Unbestimmtheit kann einhergehen mit weit- und weitestreichenden Klarstellungen (in Gestalt von Negativaussagen, Ausschlüssen, notwendigen Bedingungen), was dann alles bereits NICHT der Fall sein darf – wenn jemand oder etwas auf Dauer so, wie bereits bestimmt, sein soll. Die andere Art drückt völlig hinreichend aus, was man ist und bleiben möchte; anders als im ersten Fall ist aber noch nicht bestimmt gedacht, was dann NICHT der Fall sein darf, und wohin es mit einem nicht kommen darf.

15.
Die eigentliche Selbstbestimmung, die positive Angabe dessen, was man ist und vernünftigerweise zu tun hat (denn das Selbst ist immer ein Handelndes, und zeigt sich in seinen Handlungen, Absichten, Vorschlägen, deren Gründen), findet statt in der Bestimmung der Weltverhältnisse: Und sie sind die, die zunächst zu weit gefasst sind, zuvieles einzuschliessen scheinen, was bei näherem Zusehen und genauerer Selbst-Besinnung in Wahrheit ausgeschlossen ist.
Es besteht damit und darum aber keinesfalls schon ein Bewusstsein von den Hinsichten im Einzelnen, in denen verschiedene Menschen, mit verschiedenen Erfahrungen, verständlicherweise sich unterscheiden können, ohne dass ihr Weltverhältnis ein grundsätzlich anderes ist als das der anderen. Die Unterscheidung zwischen einem Anderssein, das wirklich einen Unterschied macht, und einem, das in-different ist, oder sogar, als bedingt-alternative oder zusätzliche Vorgehensweise, ins Inventar der eigenen Handlungsmöglichkeiten aufgenommen werden kann (ebenso umgekehrt bei den Anderen, die unsere andersartigen Lebensformen zu ihren machen können) – diese Unterscheidung, bewusst gemacht, ist sogar der erste wirklich WICHTIGE Unterschied, der in die unendliche Vielzahl alternativer, aber nicht sich ausschliessender kultureller Daseinsformen hineinkommt; eine Unterscheidung, bei der es drauf ankommt, sie zu VERMITTELN, wenn man sie sich zueigen gemacht hat: Denn es macht einen wesentlichen Unterschied im Umgang mit anderen, ob man sie für GANZ ANDRE, Aussenstehende, Nicht-Personen erklärt, aufgrund ihres Andersseins, oder in einem gewissen Mass für solche, aufgrund ihrer Unterlegenheit; oder ob man ihre Gleichheit-in-allem, was einem selbst an einem wichtig ist, anerkennt – ihr Anderssein als eines, das daran nichts ändert, dafür keinen Unterschied macht, anerkennt.
Im besten Fall werden dann im Ausleuchten der Spielräume für solches Anderssein bis an deren GRENZEN die Grundsätze des allgemeinen Vernünftig- und Personseins, nämlich als Hinsichten der Unterscheid- und Vergleichbarkeit aller, die überhaupt Person und vernünftig (und darin uns selbst gleich; auch wenn sie abweichen – und darin uns UNSERE EIGENEN Möglichkeiten, anders zu sein oder zu werden, als wir derzeit sind, uns vor Augen führen) sind, also in BEGRIFFEN, gefasst; und damit die Grundsätze und Prinzipien des eigenen Weltverhältnisses, somit im Kern: der eigenen Prinzipien des Umgangs mit wachsender Erfahrung, Wissen und Wissenserwerb, Lernen, der Vermittlung des Gelernten, also Bildung, und darum auch Geschichte.
Aber damit wird ein Weltverhältnis nur sich selbst maximal durchsichtig, es wird EXPLIZIT UND EXPLIZIERT, ausdrückbar, sag- und erklärbar. Der Mangel, der es, den Behauptungen oben zufolge, auszeichnet: dass es zu weit bestimmt ist, ist damit nicht behoben und auch nicht behebbar.
Nur soviel lässt sich sagen: Die Explikation der grundsätzlichen Gemeinsamkeiten, und das Ausleuchten der in den Grenzen dieser Gemeinsamkeiten möglichen Unterschiede, der indifferenten wie der differenten (einen Unterschied machenden; auf einer Zurückgebliebenheit der Erfahrung der einen gegenüber der der Andern beruhend, daher überbrückbar) – dies ist der Ertrag der politischen Entwicklung, wie sie im Rahmen der Unzulänglichkeiten des jeweils zugrundeliegenden Weltverhältnisses stattfindet und zu erwarten ist. Aber Politik, und die begriffliche Explikation dessen, was es heisst, dass andre „sind wie man selbst“, setzt doch den Ausgangspunkt dieses Vergleichs, ein Selbst, voraus; der Begriff von dem, was es heisst wie man selbst zu sein (in allen RELEVANTEN Hinsichten gleich, nur in irrelevanten abweichend), kann nicht entwickelter sein, als der Begriff von Selbst, und die zugehörige Praxis, die hier expliziert wird.

16.
Zwei sehr wichtige Schlussfolgerungen schliessen sich daran an.
Erstens, die Entwicklung der Weltverhältnisse ist die grundlegende, und sie ist autonom: Keine politische Verständigung, kein Verständnis von sich und andern, auf Basis eines gegebnen Weltverhältnisses, kann ihr vorgreifen, ihr vorauseilen. (Das war oben schon gesagt worden.)
Zweitens, es sind immer die im Weltverhältnis historisch Fortgeschritteneren, die den Zurückgebliebenen ihre Errungenschaften vermitteln müssen; die historisch Zurückgebliebenen sind, auf ihren Grundlagen, ausserstande, den Fortschritt zu begreifen, anzuerkennen und korrekt einzuordnen, somit auch, ihn einfach, durch Konfrontation damit, zu übernehmen.
Ein neues Weltverhältnis ist nämlich immer das Resultat eines SCHEITERNS des alten; genauer, des Scheiterns des alten Weltverhältnisses an seinem Anspruch, vollständig und ganz bestimmt zu haben, worin Rationalität, Vernunft, vernünftiges Wesen sein, vernünftig (im Verein mit andern) zu handeln (zu planen, Experimente und Hypothesen zu entwerfen usw.) besteht.
Das Resultat dieses Scheiterns ist eine neue, VOLLSTÄNDIGERE Weise dieser Bestimmung (seiner selbst, oder seines Selbst, als vernünftiges Wesen); und damit auch des Verhältnisses zu anderen SEINESGLEICHEN. Im Resultat ist aber nicht notwendig der Gang zu ihm hin, oder der ÜBERGANG, der das Scheitern ist, aufbewahrt. Wird er nicht erinnert, und gibt es nicht ein ausdrückliches Motiv, ihn zu erinnern und auch für andere nachvollziehbar zu machen, dann wird er vergessen – der Weg bricht ab, und das neue Weltverhältnis VERMITTELT SICH NICHT, weil der Weg, auf dem es zustandekam, den Zurückgebliebenen nicht erschlossen wird; die Motive, die Anschauungen, die Erfahrung, die das Scheitern, das neue, zusätzliche Moment der Selbstbestimmung erzwangen, gelangen nicht, und schon garnicht in für SIE anschaulicher, an IHRE Erfahrung anschliessender Weise, an die Zurückgebliebenen.
Und das ist auch nicht anders zu erwarten.
Denn wenn, wie gesagt wurde, die Unvollkommenheit der Weltverhältnisse und Selbst-Verständnisse (Verständnis der eignen Stellung in und zur bekannten wie unbekannten Welt, die man als vernünftiges Wesen einnimmt), im Kern eine in der Bestimmung dessen ist, wie und worüber Wissen zu erwerben ist: Dann kann der Fortschritt des eignen Wissens und der Art seines Zustandekommens zwar erkannt werden, soweit darin ein UNTERSCHIED, nämlich eben ein Fortschritt gegenüber dem den Zurückgebliebenen verfügbaren Wissen und Lernen (hier: Wissen und gelernthaben, wie zu lernen ist), enthalten ist; aber die gemeinsamen MÄNGEL können noch nicht benannt werden.
Und darum korrespondieren den Arten und Stufen des Mangels, Wissen über die Welt zu erwerben, jeweils bestimmte Arten und Stufen des Mangels, das erkennbare Unwissen und den Mangel in dem, was zu wissen nötig wäre, von Andern, gegenüber einem selbst historisch Zurückgebliebenen, zu beheben, also Arten und Stufen des Mangels in der Vermittlung der eigenen Fortgeschrittenheit – und zwar sowohl im politischen Verständigungsprozess mit andern, als auch in der Tradierung des Fortschritts in Bildungsprozessen an Nachkommende.

17.
Wenn diese Überlegungen stichhaltig sind, dann folgt daraus etwas noch viel weiter reichendes, nämlich ein KRITERIUM dafür, wann die Stufe der vollständigen und nicht mehr überschreit- und überbietbaren Selbst-Bestimmung erreicht ist.
Es müsste eine Form der Selbstbestimmung sein, bei der man sich vollständig Rechenschaft über ihr eigenes Gewordensein, die Art und Gründe ihres Zustandekommens, geben kann. Und: Eine Stufe, in der die praktische BEDEUTUNG dieser Einsicht auf der Stelle und ohne weitere Zutat begriffen wird. Auch dadurch nämlich würde sie sich von ihren unvollkommenen Vorstufen unterscheiden. Bei denen ist das neu entstandene und neu erreichte Weltverhältnis sich zunächst immer erst einmal selbst genug – es gibt dort noch nicht einmal ein Bewusstsein von der Notwendigkeit, sich den auf früheren, aus der eigenen Perspektive überwundenen Standpunkten Stehenden zu vermitteln. Stattdessen muss diese Notwendigkeit als eine dringliche erst einmal im Zuge politischer Konflikte sich massiv geltend machen, um anerkannt zu werden; die Art, wie man ihr dann und erst dann gerecht zu werden versucht, ist dann Ausdruck des eigenen mangelhaften Begreifens dessen, was Vernunft ist und welche Rolle der gesellschaftliche Wissenserwerb, das Lernen und die Beherrschung des wachsenden Wissens beim Vernünftigsein spielt. Geschichte wird nicht begriffen als das, was sie ist – gesellschaftlicher, kultureller Lernprozess; die eigne Stellung in der Geschichte, vor allem den Zeitgenossen gegenüber, in denen sich die unerledigte, unüberwundene Geschichte verkörpert, wird nicht begriffen; die praktischen Möglichkeiten und Notwendigkeiten, die daraus folgen, werden nicht gesehen, nämlich dass und wie man den eignen Standpunkt im politischen Verständigungsprozess den Zeitgenossen, und im angeleitet biographischen Bildungsprozess den Nachwachsenden, zuverlässig und reproduzierbar vermitteln kann, aber auch soll und muss.
In den Worten von oben ausgedrückt: Der Kulminationspunkt zeigt sich dadurch an, dass der Konvergenzprozess der beiden Entwicklungslinien an sein Ende kommt, nämlich so, dass positive Selbstbestimmung, und ihre explizite Fassung, worin auch die im Unbestimmten belassenen, aber fehlerhaften Überschüsse voraufgehender Stufen ausdrücklich negiert sind, zusammenkommen.
Wer sich seiner selbst, also seiner und seinesgleichen Vernünftigkeit, vollkommen bewusst ist, weiss auch, was denen noch dazu fehlt, die es noch nicht und nur unvollkommen sind. Indem er dies Fehlende vollständig bestimmt, weiss er zugleich, was es ist, das den andern zu vermitteln ist. Und genau das wissen die andern weder im bezug auf sich selbst, noch gegenüber den verglichen mit ihnen noch weiter Zurückgebliebenen.

Alle diese Mängelzuschreibungen treffen aus meiner Sicht auch noch auf den heute erreichten Epochenstandpunkt, den der Moderne, zu – ein Standpunkt, der sich solcher Mängel natürlich nicht bewusst ist, sondern vor und für sich selbst den unüberbietbar höchsten und letzterreichbaren Stand historischer Vernunftentwicklung zu verkörpern glaubt. Ich will in den nachfolgenden Überlegungen darüber nachdenken, worin diese fundamentalen Mängel des modernen (neuzeitlichen, aufgeklärten) Denkens im einzelnen bestehen.
((Genauer muss es, aus meiner Sicht, heissen: der modernen Selbst-Bestimmung – der modernen Bestimmung dessen, worin Rationalität und vernünftiges Handeln (Planen, Erfahrungsverwerten, speziell Lernen, Wissen erwerben bei bestehenden Erfahrungsständen) generell besteht.))