7 vorläufige Thesen als Antwort auf Feynsinn: Der Irre, die Doofen und der treue Deutsche

7 vorläufige Thesen als Antwort auf Feynsinn: Der Irre, die Doofen und der treue Deutsche

(Erläuterungen (kursiv, mit Querstrichen abgetrennt) werden sukzessive nachgeliefert)

1. Das derzeitige Vergesellschaftungs-„System“ ist nichts als die Gesamtheit aller Folgen des Glaubens an ein solches System. Von diesem Glauben gibt es diverse, einander widersprechende Formen (quasi Konfessionen).

1A.

Jedem Traditions-Materialisten fällt gleich ungut auf: Hier scheint zunächst nur das Subjektive, die Vorstellungen, die Leute sich machen, als massgebliche Ursache benannt, es sind aber doch die „objektiv“ zwischen ihnen sich einstellenden  Verhältnisse usw – Aber: Es ist ja auch von FOLGEN die Rede, die die massenhaft (und massenhaft durchaus übereinstimmend) eingenommenen Glaubenspositionen haben sollen.
In der Einleitung zur 1.Untersuchung zum linksradikalen Denken steht:

„Diesen „Vergesellschaftungskonzepten“ der beteiligten Einzelpersonen (bzw Massen von ihnen) messe ich einen ganz anderen Stellenwert zu bei der Erklärung der „Verhältnisse“ (sc. als bisher in radikallinken Theorien üblich) – nämlich einen für diese Verhältnisse KONSTITUTIVEN.
Dabei scheint mir, dass das Wechsel-Verhältnis zwischen dem, was Leute aufgrund ihrer Vorstellungen von der Art, wie sie alle miteinander verbunden sind, erwarten, und dem, was „gesellschaftlich“ anders läuft als erwartet, viel genauer untersucht werden sollte, als es traditionell in radikallinken Theorien bisher getan wurde.“

Tatsächlich ist mit dieser Formel kaum mehr geleistet als unsagbar grob (und in Entgegensetzung zu eben anders Ansetzendem) eine Fragerichtung zu umreissen; die Antworten darauf laufen hinaus auf eine unendliche Fülle an Analysen, Begriffsbildungen, zuletzt würden sie auch hinauslaufen auf empirische Ermittlungen, denen freilich im Ansatz schon zu misstrauen ist; denn soziale Sachverhalte sind keine physischen, nicht mal biologische, sondern kulturelle, und sie leben von Verständigung, wenigstens im nachhinein, unter den Beteiligten*), wie sie zu beurteilen und bewerten sind; zuletzt, hoffentlich, einheitlich und im Konsens (mit Konsequenezn für das weitere Handeln der ab da Verständigten). Gesellschafts-Wissenschaft, oder besser: Gesellschafts-Reflexion, kann ab einer bestimmten (und sehr frühen) Stufe ihrer Entwicklung, garnicht anders als übergehen in praktiziertes Sich-Verständigen. Oder aber… in Kritik an der Illusion, auch ohne solche Verständigung und ihr Resultat, Verständigtheit (in allem wesentlichen) „vergesellschaftet“ sein zu können; eine Kritik, die alsbald auch das Weltverhältnis oder die Weltverhältnisse einschliesst, die solche illusionäre Vergesellschaftung bzw die Hoffnung auf sie voraussetzen, um überhaupt über allererste Anfänge hinausgetrieben zu werden. Die MODerne ist leider ein solches: Viel zu gross für jede menschliche Bewältigungsfähigkeit – von Einzelpersonen bereits; wie dann erst von Gruppen von ihnen. – Man muss diesen letzten Satz nur aufmerksam lesen, um sofort den Reflex zu bemerken, der sich in jedem heute lebenden halbwegs Gebildeten regt: Bewältigbar für Einzelpersonen…? natürlich nicht! für Gruppen? schon eher; für ganze Gesellschaften? – durchaus! Genau von dieser Illusion handelt die erste These, ohne das auszuführen. – Wie sollte sie solche Ausführung auch leisten? Nicht nur ist der Reflex (der Glaubens-Reflex) tief verwurzelt im Alltags-Denken, im üblichen Verständnis-von und Sich-Verhalten-zu Welt und Andern – nicht nur ist, die Glaubensformen allein schon nur zu rekonstruieren ein Geschäft, das mehrere Theoretiker-Generationen beschäftigen kann; vielmehr ist die Aussage alsbald, dem soeben Gesagten zufolge, garnicht mehr anders zu überprüfen, als (Theorie ist nur Vorbereitung darauf) durch Gespräche (Verständigungsversuche) „auf gesellschaftlicher Stufenleiter“. Und die… können sich hinziehen.

*) die Tatsache, dass es sich um Personen handeln soll, zieht den Inhalten möglicher Verständigung Grenzen (dh es wird so näher bestimmt, was Verständigung mit jemand Zurechnungsfähigem, einer Person, ist) – es sind Grenzen der Verstehbarkeit (Vernünftigkeit); und das Einhalten dieser Grenzen ist der Prüfstein für das Fortbestehen der Personalität dieser mutmasslichen Personen (Zurechnungsfähigen, Verstehbaren etc). – Behauptungen wie diese, ebenso wie ihr Gegenteil (verbunden mit alternativen (nämlich „bewusstseins-theoretischen“) Verständnissen dessen, was eine Person zu einer solchen macht) lassen sich an dieser Stelle nicht beweisen oder widerlegen. Meine Behauptung ist abhängig gemacht von einer Darlegung der „Bedingungen der Möglichkeit“ des Begründens, und damit Sprechens überhaupt; einer sogenannten Logischen Grammatik (oder inferentiellen Semantik;Robert Brandoms/Sellars‘ Ausdruck). 

1B.

Die Wortwahl soll durchaus andeuten, in welchem kategorialen Rahmen die derzeitigen „Vergesellschaftungskonzepte“ angesiedelt sind: Es sind gläubig-RELigiöse; eine Einordnung, die vor dem Hintergrund der auf dieser Seite entfalteten Mentalitäten-Theorie keine denunziatorische, sondern systematische und ihrerseits kategoriale Absichten verfolgt – auch das steht im Einleitungsteil der 1.Überlegung zum linksradikalen Denken: dass materialistische Traditionalisten das Fundamentale am RELigiösen Denken stark verfehlt haben in ihren Analyse- und Verstehens-Versuchen; und dass dies zu erklären ist als Ausdruck der Tatsache, dass sie eben mit diesem von ihnen abgelehnten Denken wesentliche Grundstrukturen teilen – sofern dies in ihren Kreisen bemerkt wurde, griff man auf den (ursprünglich) philosophisch-klassifizierenden Terminus „idealistisch“ zurück – bei ihnen taucht er leicht polemisch verfremdet auf, wie unter zankenden Theologen üblich. Aber so wenig mir die Feuerbachsche „Religionskritik“ das Spezifische RELigiöser Weltverhältnisses erfasst zu haben scheint (wenn auch nicht ganz verfehlt) – so wenig trifft die Kritik, die sich in der Zuschreibung „idealistisch“ an diverse  Gesellschaftsdoktrinen zusammenfasst, die logischen Strukturen, die diesen mit genuin RELigiösen Weltverhältnissen gemeinsam ist. Und das, was ich hier mit dem unscheinbaren Wort „gläubig“ meine, entgeht sowieso allen – das Allgegenwärtigste in der Kultur überhaupt – das, was ich im Text „Normalität usw“ untersucht habe – das „Normaldenken“, in das dann auch jedes RELigiöse Weltverhältnis (besser: Inhalte, die in ihm entwickelt wurden) unweigerlich zurückgleitet, wenn nicht ganz ausserordentliche, historisch bislang noch garnicht verfügbare Einsichten und Vermittlungs- und Bildungsmassnahmen dem entgegenarbeiten. Im weiteren Fortgang der Untersuchungen zum radikallinken Denken werde ich wohl ausführlicher auf diese meine Behauptungen zurückkommen müssen.

1C.

Ich bin mit meiner Sichtweise, zumindest unter „bürgerlichen“ Gesellschaftstheoretikern, nicht ganz alleine. Am nächsten kommt ihr, was man akademisch-salopp den sog. Tinkerbell-Effekt nennt, den es dann auch in einer sog. reversed-Version seiner selbst gibt, beides (wiederum einschlägig im Zshg mit meinem Text) gehört in die „Theorie“ der „unbeabsichitgten Konsequenzen“,  für die paradigmatisch Robert Merton steht. Darin eingeschlossen sind die – wohl populäreren – Varianten der „selffulfilling prophecies“ und, erneut in der reversed version, die selfdefeating (rechtzeitige Warnungen in Gestalt von Schadensprognosen „wenn nichts geschieht“ – und genau darum geschieht etwas). Im weiteren Umfeld all dieser Theoriebildung stehen die bekannten (naja; nicht allzu spannenden) Paradoxien im Zusammenhang mit der Vorhersagbarkeit menschlichen Handelns (die infame Bewahrheitung diverser Orakel, wo die Prohezeiung in den Gang der Ereignisse (und die Entscheidungen der Akteure, die fragten) einflossen – matte Pointen der Art „wenn du (Midas) den Halys überquerst, wirst du ein grosses Reich zerstören“ (es war dann sein eignes) usw) Aber auch die radikallinke Theoriebildung hat dazu beigetragen, in Gestalt allfälliger „dialektischer“ Umkehr-Bewegungen (also die Figur in der reversed-Version), wobei es weniger um Handeln unter dem Glauben, dass und welche Folgen (ausserhalb der eigenen Wirksphäre) es haben könnte, ging, als um Absichten, die gerade im Mass, wie sie erfolgreich sein würden, sich ins Gegenteil verkehrten, zB der Kapitalismus erzeugt sich seinen eigenen Totengräber, tendenzieller Fall der Profitrate usw (Mehr Varianten hier: http://www.econlib.org/library/Enc/UnintendedConsequences.html  ). Aber die „Negativ“-Dynamik der unkontrollierbaren= NUR erwartbaren/befürchtbaren (als Inhalt von Warnungen angekündigten) und/oder (faktisch) unbedachten, ungekannten und darum unbeabsichtigten, in der Planung unberücksichtigten Handlungskonsequenzen sind naturgemäss historisch nichts übergreifend stabiles (ausser als immer wieder neu und anders sich darstellendes Phänomen und ewig-schicksalhafte Begleiter aller Praxis). – Es gibt zentralere soziologische Kategorien, die letztlich mit der Kategorie der stabil-bestätigten und sich so reproduzierenden wechselseitigen Erwartung arbeiten, nämlich die dadurch erklärten INSTITUTIONEN. Am Ursprung vieler Theoriebildungen steht die Ökonomie, der „Kredit“, den man gibt, indem man als Verkäufer Geld akzeptiert (systemtheorie-soziologisch ein „Medium“) oder spart, ja überhaupt sein Leben auf den Markt ausrichtet (falls man an sich Alternativen dazu hätte,… oder das in jedem Fall für eine gute Sache hält, auch ohne Alternative). Auch das andre grosse Koordinatons-Instrument, von dem die (bürgerliche) Soziologie redet, NORMEN, impliziert die Erwartung, dass man nicht der einzige ist, der sich daran hält.

Im Zentrum der gesamten Theoriebildung um diese Phänomene steht also die Kategorie der (gleichlautenden, oder symmetrisch aneinander gerichteten) ERWARTUNG *) von Folgen des je eignen Handelns grosser Gruppen von Akteuren, die nicht direkt miteinander verständigt sind. Eine Kategorie, die wiederum als zentrale eines ganzen Typs von Weltverhältnissen Gegenstand meiner Überlegungen unter dem Titel „Normalität“ ist. Da ist auch das Bindeglied zwischen „Weltverhältnis“ und „Vergesellschaftungskonzept“; zumal dann, wenn der Erwartungsinhalt mit Stoff besetzt wird, der aus einem fortgeschritteneren Verhältnis zu Welt und anderen stammt – etwa RELigion oder MODerne. Und noch ein Bindeglied ist angesprochen, und eine noch fundamentalere Theorie-Ebene betreten mit dem (sozial-RELigiösen) Glauben, der (soziale) Tatsachen schafft in Gestalt massenhaften Handelns in seinem Sinne: Nämlich eine provisorische Antwort auf die Frage, wie sich zahllose Interaktionen auf der „mikro-soziologischen“ Ebene in „makrosoziologische“ übersetzen können; schwer genug zu beantworten, aber immer noch leichter als die andre: Wie dasselbe in der umgekehrten Richtung geschieht, wie „Öffentliches“ privat so verarbeitet wird, dass das massenhaft (vorhersehbare? erwartbare?) öffentliche Rückwirkungen  hat. Das Hin und Her zwischen den beiden „analytischen“ Ebenen (die „gesellschaftliche“ ist ja eigentlich eine fiktive….) ist erklärungsbedürftig; dass es immer weiter funktioniert, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn…

…und das ist die fundamentalste aller Ebenen, auf der hier gedacht werden kann: „Nicht Gesellschaften lernen, sondern Einzelne.“ Das Wissen, das der ständig sich umwälzenden (und angesichts zu tragender Risiken auch immer umwälzungsBEDÜRFTIGER werdenden) Reproduktion und ihrem Fortschritt in MODernen Zeiten zugrundeliegt – es explodiert. Wie wird es verwaltet, wie in Pläne, Projekte übersetzt? Wie kommen Zwecke, Bedürfnisse, wessen? vor?

Die Antwort, die ich gebe (in der 1.Untersuchung zum radikallinken Denken wird davon bereits mehr als hier geredet), lautet: Garnicht kommen sie vor. Stattdessen realisiert sich, spätestens durch die kapitalistsiche Form der Produktion, Technologie-Wachsum, zumindest soweit repräsentierbar als Kostensenkung und Nachfrage-Attraktion, die Expansion von Technologien, der gemeinsame Konvergenzpunkt der „Naturalisierung von Technik (Automatisierung) und der Technisierung von Natur (Transhumanismus, Singularität)“, als SELBSTZWECK. Der Glaube daran, aufgrund dessen man sich rückhaltlos für dieses generationen- und biographien-überspannende heroische Projekt rückhaltlos und opferreich einspannen lässt, lautet: Genau dies ist dann zu unser allem, und auch meinem Besten. Auch wenn man nicht so genau weiss, wie. Aber die Unbestimmtheit des Ideals (das hypothetisch, bis auf weiteres, als da draussen realisiert dem Handeln, bis zur Widerlegung, zugeundegelegt wird; ich nenne das: eine Optimalhypothese), vor allem mit Blick auf konkrete praktische Umsetzung, ist nun mal der Grundzug allen RELigiösen Denkens.

Ich weise noch darauf hin, dass es auch einen Bezug gibt zu der in der 2.Untersuchung angesprochenen Trias im Marxschen Werk: THEORIE – („wissenschaftliche“ vs moralische) KRITIK – PROGNOSE.

*) Erwartungen, die ENTTÄUSCHBAR sind.               


2. Die, die in der derzeitigen  Epochenkrise zweifeln, also unter anderm diesen ihren Systemglauben infragestellen, und zugleich die Möglichkeit haben, diesen Zweifeln nachzugehen, ziehen sich aus der Öffentlichkeit zurück, oder bilden eine eigene, eine Nebenöffentlichkeit, getrennt von der weiterlaufenden, „offiziellen“.


2A.

Ich bleibe bei meinen Ausgangs-Behauptungen auch in dieser, in These 2 genannten Hinsicht – die These 2 läuft (zusammen mit den folgenden, 3 und 4) hinaus auf eine Idee, wie man sich jenen (Epochen)Übergang heute (im Grundsatz ähnlich wie frühere) vorzustellen hat, von dem die Marxsche Theorie/Kritik/Prognose handelte – vor allem unter dem Titel Revolution (das muss ja nicht immer zugespitzt, der gewaltsame politische Umsturz sein; es gibt ja auch zB eine industrielle R.). Neuere Darstellungen greifen gern auf das Wort Krise zurück, immerhin zieht die sich schon etwas länger hin; tatsächlich dauert der Epochen-Übergang, der so sehnlich erwartete (von denen, die ihn innerlich „im Prinzip“ schon absolviert haben) quälend lange. Immer wieder in der Geistes-, die eigentlich die materielle Kultur-Geschichte ist, kann man bemerken, wieviel Anlaufzeit ein kultureller Aufschwung braucht; wie da ein plötzlich Beflügeltes, wie von selbst und selbstverständlich in all seinen Formen entwickelt Hervortretendes, das ab da intakt sich weiterentwickelt, schon darum „revolutionär“ in Erscheinung tritt, weil davor nichts darauf hin deutet – die Vorbereitung verläuft unterhalb der gesellschaftlichen Wahrnehmungsschwelle und muss im nachhinein von Historikern, wenn das überhaupt gelingt, mühsam rekonstruiert werden. Kultur ist gewebt aus Fäden, Strängen, die für sich nicht lebensfähig und haltbar sind; es gehört viel Überzeugtheit und Durchhaltevermögen dazu, an solch Nichtlebensfähigem und für sich Unhaltbarem immerfort weiter sich zu schaffen zu machen, und es zu perfektionieren – bis es mit anderm solchen zusammentritt und ab da „ko-evolviert“. Es ist genau diese Latenzphase einer neuen Epoche, in der wir uns befinden; die (intensive, aber nicht „öffentlich“ (nicht in der etablierten Öffentlichkeit jedenfalls) sichtbare Arbeit an diversen epochal neuen Strängen geht längst vor sich; vermeintlich geht nichts voran, solange, bis das epochal Neue seine Überlegenheit erstmals geltend macht, und die herrschende Mentalität sich seiner erst bedient als Mittel für sich (auf ihren Grundlagen wäre sie ausserstande gewesen, dies Mittel zu entwickeln); bald aber schon wird sie ohne es nicht mehr auskommen, ihre immerfort anwachsenden Überforderungen anders nicht mehr bewältigen können. Aber sie versteht dieses ihr Mittel nicht, darum versteht sie auch nicht, sich seiner zu bedienen. Statt ihre Problemlösefähigkeiten zu steigern, hilft das Mittel nur, deren Begrenztheit in immer grelleres Licht zu rücken. Umgekehrt wird das abseits gesellschaftlicher Aufmerksamkeit Entwickelte immer erfolgreicher, seine vielen Teilstränge fangen an, zusammenzuarbeiten und die Ausbildung von Lebensformen und generationsübergreifenden Projekten (mein Ausdruck: „Individualitäten“) in Angriff zu nehmen, es entwickeln sich Subkulturen, „professionelle“ Routinen, Begriffe, Verständnisse, speziell auch der Defizite des Bestehenden. (vgl. im Grundsatz ähnlich: http://keimform.de/2011/fuenfschritt-methodische-quelle-des-keimform-ansatzes/  – man sieht, mit wie wenig Begriff sich Radikallinke dem Thema nähern), bis das herausgeforderte Alte und Überholte die „Hegemonie“ verliert – es ist nicht mehr herrschende Macht; bleibt aber mächtig, noch lange Zeit, und läuft langsam aus (es ist, es hat nicht mehr  d i e  Macht, ist nur noch  e i n e  Macht, neben andern). Es verschwindet erst lang danach, ein oder zwei Epochenübergänge können dazwischenliegen. Wer dafür Anschauungsmaterial sucht, findet es im Überdauern des Spätmittelalters in der höchst anpassungsfähigen und wandelbaren Gestalt der katholischen Kirche (nicht: DES Christentums überhaupt; das ist einerseits älter, und hat andererseits noch weitere Entwicklungen durchgemacht). Ein weiteres ist das Erbe, das die Renaissance-Epoche im westlichen Kulturbewusstsein bis heute hinterlassen hat, mit Domänen wie den Kunstgattungen und ihrem Fortleben; kaum vorstellbar, dass solche Kulturmächte je verschwinden. Und doch geschieht es. Eine solche Macht, die einmal unendlich viele Geister beherrschte, lässt sich benennen: das Zaubern, die Magie; so wie, durchaus im Zusammenhang damit, wenn nicht Derivat, Unterabteilung des Zauberns und Verzauberns: das öffentliche Zelebrieren von Ritualen, Feiern, Festen oder Grossveranstaltungen, bei denen Höheres geschieht und erlebt wird als kollektive Vergnügung und Erholung (manchmal vielleicht noch zu spüren bei Konzerten oder Demonstrationen), oder das Errichten von „Gedenkstätten“; ein weiteres Beispiel der Art könnte sein: „Personenkult“, charismatische Führung, Monarchie.*) Alles nichts für zeitgenössische Erwachsene, die noch irgend ernstgenommen werden wollen – weit ausserhalb des https://en.wikipedia.org/wiki/Overton_window – in den urbanen Regionen der Industriegesellschaften, in den halbwegs gebildeten „oberen“ Zweidritteln dort, zumindest.

*) bald schon könnte hinzukommen: die Entzauberung auch noch der Gender-, der „erotischen“ und sexuellen Fetische (die ist voll im Gang; in 50 oder 100 Jahren wird man nicht mehr (oder nicht ohne historische Erklärungen) verstehen, wie Pornografie funktioniert hat) und des „Ästhetischen“ (oder Kunst gleich welcher ihrer Gattungen). Im nächsten Schritt (aber später) werden die manifesten, dann auch die weniger manifesten Formen RELigiösen Denkens folgen…

2B.

Es gibt eine Implikation dieser Betrachtungsweise, die dem üblicherweise mittels historischer Bildung transportierten Epochenmodell widerspricht: Epochen grenzen nicht bündig aneinender, sie laufen lange Zeit, sich entwickelnd und ausreifend die aufsteigende, stagnierend und machtvoll, unendlich langsam sich zurückziehend die andre, nebeneinander her – die Gruppen, die sich dem einen wie dem andern verschrieben haben, leben zur gleichen Zeit, mit wenig Berührpunkten, etwa solchen allenfalls wie: dass die spätmittelalterliche Kirche den Renaissancemalern die Aufträge und Sujets vorgibt. Mehr als solch äusserliche Beziehung in lange Zeit gleichgültiger Koexistenz verbietet sich: zunächst wegen des „Bedeutsamkeits“-Gefälles – das Neue ist so marginal, so unspektakulär und – aus der völlig verständnislosen Perspektive der Anhänger des Bestehenden – irgendwie schnell als unerheblich einzuordnen, dass es keinerlei Aufmerksamkeit verdient. Das ändert sich (zur grossen Verblüffung der Etablierten), aber die wechselseitige Verständnislosigkeit (je unterschiedlich eingefärbt als heftige Ablehnung des Bestehenden vonseiten der Neuerer, ärgerliche Entwertung mit psychologisierenden Deutungen vonseiten der so überaus „überlegen“  von ihren Machtpositionen auf die Herausforderer blickenden etablierten Kräfte) bleibt bestehen: zwischen Denkweisen unterschiedlicher Epochen besteht Inkommensurablität – wenn nicht (was aber bislang nie der Fall war) dies Verhältnis, dies GEFÄLLE, seine Aufklärung und letztlich Abschaffung, zum Bestand der Kernaufgaben der neuen Epoche gezählt wird. Die Nachmoderne wird die erste Epoche sein, die sich dieser Aufgabe wirklich stellt (warum? dazu gibt es ganz am Ende dieses Textes unten einen Hinweis). – Es liegt in diesem Zusammenhang nahe, sich zu fragen, woher eigentlich die Vertreter und Anhänger eines „absterbenden“, aber mächtigen Kulturzweigs sich rekrutieren. Darauf versucht Punkt 3 eine vorläufige Antwort zu geben:


3. Zurück bleibt die „meritokratische“ Negativauswahl aus verspätet, mit „eigentlich schon überholten“ Einstellungen in Elitenpositionen Nachrückenden (aus der sozialen und geographischen Peripherie/Provinz), und aus ihr selbst rekrutierten Nachkömmlingen der „alten“ Elite (die entsprechend abgeschottet aufgewachsen und erzogen sind) – die Meritokratie nimmt zusehends dynastische Züge an.
„Meritokratie“ steht hier für: Die „Eliten“ definieren ihr „Verdienst“ entlang immer dogmatischer, immer selbst-bezüglicher festgeschriebener Wertekanons und Erfolgskriterien (zB Milliardär, Spitzenpolitiker, CEO), die immer weniger Indikatoren tatsächlicher Problemlösefähigkeit darstellen, und darum ihre gesellschaftliche Geltung zusehends verlieren.


3A.

Man muss den in dieser These angesprochenen Sachverhalt im Zusammenhang mit dem aus These 2 sehen. Es ist ein Vakuum entstanden, die progressiven Kräfte sind teils gelähmt, teils beschäftigt und abgetaucht; das eigentlich historisch Erledigte, auch längst Herausgeforderte (wenngleich nicht in seinem Zustandekommen Erklärbare, Begriffene) scheint unangefochten zu triumphieren und in seiner erreichten Reifeform sich für unabsehbar lang einzurichten. Allein, dass es Leute gibt, die solche „Endstufen“ der Geschichte für möglich halten und an ihre Haltbarkeit glauiben, ist eigentlich rätselhaft. Die Äusserlichkeit, die in der These angeführt ist, es seien kulturelle Spätentwickler und „Eliten“-Abkömmlinge, reicht eigentlich noch nicht zur Erklärung. Es muss vielmehr im INHALT des etablierten Glaubens eine Komponente geben, die es ermöglicht, an der unbefristeten Fortschreibbarkeit und/oder Unentbehrlichkeit, Unersetzbarkeit der etabliert-ausgereiften Verhältnisse festzuhalten. Aber genau solche Leicht-Überzeugbarkeit von der Stabilität an sich längst unhaltbar gewordener Zustände ist eigentümlich für archaischere Verarbeitungsweisen historisch anwachsender Erfahrung; das Problem liegt darin, dass genau diese Einstellungen (wie in sich differenziert sie auch sein mögen) zugleich die der überwältigenden Bevölkerungsmehrheit sind (die sie, selbst wo sie kritisch gewendet werden, mit den „Eliten“ teilen). Von daher muss man fast eher fragen, wieso es überhaupt Gruppen gibt (mit entsprechenden Bildungsgrundlagen), die sich der Pionier-Aufgabe stellen. Warum sie – und die andern nicht? Das ist die eigentlich weiterführende Fragestellung – auch wenn das Beharrungsvermögen von „zurückgebliebenen“ Eliten wie Massen angesichts wachsenden Problem- und Krisendrucks, mit dem genannten Ansatz, eine eigne Erklärung verlangt.

3B.

Es ist üblich, in der ihrerseits nicht sehr entwickelten Weise, über politische Formen und Sachverhalte MORALISCH zu urteilen, dass man die Eliten, als die Verantwortlichen (die freilich in Spätzeiten von sich gern als solchen reden und sich dabei weit grösser machen (und machen müssen), als es ihnen angesichts realer Versäumnisse zukommt), beim Wort nimmt und  für das, was geschieht, „verantwortlich macht“. Dann erscheinen sie skrupellos, „psychopathisch“, gierig, verrückt, was nicht noch. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass so zu etikettierende Zielsetzungen und Verfahrensweisen (oder sie praktizierende Rackets und Einzelpersonen) vorkommen oder gar sich ausbreiten. Der Fehler in der Betrachtung liegt aber darin, dies vom andern abzutrennen, und die Schlechtigkeit der unmittelbaren Urheber solcher Machenschaften anzuklagen, sie „verantwortlich zu machen“, als ob daran viel gelegen wäre. Lieber unterstellt man ihnen Allmacht und bösen Willen, als sich mit der Möglichkeit abzufinden, dass sie den Anforderungen zusehends nicht mehr gewachsen sein könnten; dass ihre Skrupellosigkeit Verzweiflungsausdruck sein könnte, aus Not geboren und „nur aus Verantwortung“, gegenüber den Ahnungslosen, die ihnen noch immer vertrauen, auf die Spitze getrieben; dass das Verschweigen, Betrügen und Vortäuschen von Intaktheit vor allem auch ihnen selber gilt, und der Betäubung der eigenen Zweifel angesichts ihres Weiterwurstelns auf Gedeih und Verderb, unter zunehmender Ausblendung zentraler Realitätsaspekte – weil es auf ihren Grundlagen keine Alternative gibt. – Aber an diesem objektiven Scheitern, und der Unterstellung, dass echte Überforderung Grund sein könnte für all die Gesellschafts-Gebrechen, gibt es einen vergifteten Kern; man kann ihn sich klarmachen an den Bemerkungen von Engels über die Absichten von Akteuren, die auf Gesellschaft und deren Beeinflussung zielen, und dern Bemühungen von andern durchkreuzt werden – in all dem Getümmel komme dann gänzlich andres heraus als irgendjemand gewollt oder geplant oder erwartet habe. Das kann durchaus so sein, manchmal mehr, manchmal weniger; nur: Gesellschaften haben neben ihrem Innen- noch ein Aussenverhältnis (vgl. hierzu die Liste am Ende von 5A unten); und auch da, da vor allem, liegen die Aufgaben, die sie arbeitsteilig, koordiniert, lösen müssten. Kann es sein, dass uns diese Aufgabenlösung, je weiter und erfolgreicher wir vorrücken im Projekt der Moderne, immer weniger gelingt? Und dass angesichts dessen die Schuldzuweisungen und das Hin- und Her-Suchen nach Verantwortlichen, die es besser machen könnten, davon nur ablenken – selbst, wenn es solche Verantwortliche in irgendeinem engeren (verantwortlich durch Anrichten überflüssiger Schäden) oder weiteren Sinn (verantwortlich durch Unterlassen) noch gäbe .

3C.

Im Umgang mit öffentlichen Interpretationen der Absichten von „Herrschenden“ gibt es wenig Alternativen. Die erste ist: Ihre Erklärungen zusammen mit ihren Taten rückhaltlos annehmen und mit ihnen zusammen sich einbunkern gegen alle Einwände. Sobald aber dieser Burgfriede gestört ist, und es Einspruch gegen die ausgegebenen Parolen gibt, wird mit der Ablehnung von Zwecken (etwa: Austeritätspolitik) auch das Misstrauen wach, dass diese Zwecke von der bisher unsuspekten Führung womöglich aus ganz anderen, als den proklamierten Motiven (anderen Präferenzen, Prioritäten) gebildet wurden – spätestens, wenn eine (immerhin,noch, gemeinsame Endzwecke unterstellende) technisch-instrumentelle Kritik nicht gegriffen hat. Die eben noch vermeintlich „nur“ ungeschickt oder fahrlässig Verfahrenden verwandeln sich dann schnell in Feinde, ihr gesamtes Reden steh ab da im Verdacht, strategisch und nichts als Lug und Trug zu sein. Der Interpret seiner Feinde aber kann sich nur noch an deren Wirkversuche halten, und die muss er im wesentlichen als erfolgreiche ansehen, um daran entlang ihre wahren Absichten zu erraten (gegen die er anschliessend vorgehen muss, um sie zu durchkreuzen). Bei Feinden  Überforderung, Verzweiflung, Scheitern (so, wie ich eben) zu unterstellen, kann sich ein Kämpfer nicht leisten. Schon die Wahl seiner Kampfposition ist so ein einziges Vorurteil über den Sachverhalt, zu dem er sich zu stellen versucht. Hat man hingegen keine Wahl, ist die eigne Position die der Ohnmacht und des Beobachters, wird man seine Interpretationsversuche auf andere Themen richten: Man wird nach übergreifenden Tendenzen suchen, die dem Handeln der Gegner Schranken ziehen (ah – der Fall der Profitrate!), es womöglich, ihren Absichten zuwider, doch noch in die von einem gewünschte Richtung zwingen oder es irgendwann ganz unterbinden – völlig unabhängig davon, was sie tun und sagen; das darf man dann vielmehr getrost ignorieren.

Aber hier wird nicht umsonst so unnachgiebig auf der Feststellung beharrt, dass gesellschaftliche Praxis auf Einzel-Handlungen Einzelner (wenn auch, zugegeben, sehr vielen, sehr vieler) beruht, und darum mit dem ganzen kategorialen Apparat, der dafür verfügbar ist, zu analysieren ist. Und dann kommt eben eine weitere Möglichkeit ins Spiel, die freilich in der bestehenden Situation auf lange Frist hinaus empirisch, nämlich durch die oben genannte Option, sich mit den Interpretierten zu verständigen, nicht einzulösen ist. Diese Möglichkeit ist, die entstandenen und sich immer weiter fortwälzenden Verhältnisse als Resultat eines UNTERLASSENS zu beschreiben – das relevant ist, weil es Schädliches, von hinreichend vielen Betroffenen so Empfundenes, zur Folge hat; diese Beschreibung ist somit unmittelbar eine KRITIK. Aber eine, die den Kritisierten bei Lebzeiten nie zu Gehör gebracht werden kann, sondern erst im historischen Rückblick, in einem virtuellen Dialog. Das macht diese Beschreibungen so bodenlos; obwohl sie die in historischer Perspektive gültigen sind: Jede Epoche ist eine KRITIK ihrer Vorgängerin in genau der Hinsicht: Sie führt das aus und damit vor, was in der andern unterlassen wurde, sodass sich immer dringlichere Problemlagen ergaben, auf die (auf wie vielfältige Weise auch immer) unter den alten Voraussetzungen nicht zu reagieren war.

((Auf vertrackte, man könnte sagen: ironische Weise vereinigen sich also in dieser Sichtweise die beiden andern Interpretations-Ansätze: Das Unterlassen hat übergreifende Folgen, die allem Handeln, die es ignorieren, irgendwann Schranken ziehen, und, es ist das versteckte Motiv hinter und in allem, was die Akteure tun und zu tun versuchen, insofern es all ihre Handlungen beschädigt und an den sich häufenden Schäden scheitern lässt. Nur, dass dies Motiv eben genau nicht IHRES ist und von ihnen nicht gewusst: Sie wissen es nicht, aber sie tun es eben auch nicht. Höchstens, dass sie ihr Versäumnis manchmal AHNEN… ))


4. Auch die Masse der Gesellschaft spürt, dass Anomalien sich häufen, spektakulär Unerwartetes geschieht, längst überwunden Geglaubtes erneut auf die Tagesordnung gesetzt wird, immer schriller geforderte Problemlösungen unterlassen werden, und der Fortschritt stagniert. Aber sie hat nicht im Ansatz die Mittel, um aus diesem Gefühl etwas zu machen; die Kakophonie aus kritischen Deutungen, die es bis zu den Massen schaffen, verwirrt sie nur; und ihre wenigen vormals freien Kapazitäten werden zunehmend in Anspruch genommen, um die auch in ihren Alltag hineinwirkenden Krisen-Belastungen zu bewältigen und weiter über die Runden zu kommen.


4A.

Ein wichtiger Punkt; man kann sich fragen, ob er sich nicht auf der Stelle auf die Eliten ausdehnen lässt: Wie sollen diese unter Druck geratenen Bevölkerungsteile innehalten, wann zum Nachdenken kommen, wo liegen die Erfahrungen, die sie vom Einfach-Weitermachen abhalten? Nichts offenbart die beinah grenzenlose Naivität, durch die sich radikallinke Übergangsphantasien auszeichnen, mehr, als die Erwartung, dass „Krise“ sich in Erkenntnisgewinne und Kritik übersetzt. In Wirklichkeit ist exakt das Beharren auf dieser Art Erwartung nur die dissidente Version desselben Glaubenstyps, dessen „Mainstream“-Ausprägung die Restgesellschaft in Bann hält: „Krise“ war ja schon immer, „immer weiter sich verschärfende solche“ auch schon immer; Grund zum Revoltieren gabs (aus Sicht der Kritiker) ebenso immer – nichts Neues also, nur Fortschreibung des Bestehenden. Einzig der Leidensdruck steigt, vielleicht auch die Zermürbung der Macht, beides hebt sich auf, sodass am Ende alles bleibt, wie es war; ein rasender Stillstand, der sich an Ort und Stelle festfrisst. Wer freilich Glaubenssätze wie den vom Umschlag der Quantität in Qualität im ideologischen Gepäck mitführt, darf hoffen – solche zumindest resignieren nicht; so wenig wie die andern, von denen ein Abschwören ihres Mainstream-Glaubensbekenntnisses zu erwarten sein soll. Nur – die einen fallen so wenig vom Glauben ab wie die andern. Religiöse Bekenntnisse sind so nicht zu erschüttern.

4B.

Aber nicht nur der Satz über grosse Bevölkerungsteile lässt sich auf „die“ (sollte man nicht eher sagen: „ihre“?) Eliten ausdehnen, auch das umgekehrte gilt, nämlich: das in These 3 Gesagte kann auf die Anhänger (Wähler, Unterstützer) der „nachrückend-nachholenden“ Eliten angewendet werden. So ist gewährleistet, dass nicht mehr mehrheitsfähige, kulturell bereits stark erschütterte und infragegestellte Regel- und Wertesysteme (die zugleich, ihrer langen Geltung wegen, perfekt ausgestaltet, organisiert, in Routinen, Institutionen, Normen, explzierenden Diskursen und ihre Relevanzstrukturen thematisierenden Begriffssystemen verankert sind) immer neue Träger finden – wenn auch in abnehmender Zahl. Die Reservoirs an nachrückenden Bevölkerungsteilen erschöpfen sich freilich; mit der Fortgeschrittenheit der alten Verhältnisse erben sie auch deren Anfälligkeit und den Problemstau. Sodass als Erklärung für das Beharrungsvermögen grosser Teile der „spät-epochalen“ Gesellschaften eben auch deren eingefleischte Lernformen herangezogen werden müssen – die sie festhalten lassen an überkommen-überholten Lebensformen, noch weit nach der Aufbruch- und Reifephase, in der diese Lebensformen ihr produktives Potential gezeigt und schliesslich erschöpft haben. Schliesslich kommt als weiteres Moment hinzu, dass das zur Entwicklung anstehende Neue einfach nicht fertig und lebensfähig, in dem Fall könnte man sagen: nicht lebbar ist, und nicht solche Formen ausgebildet hat, in denen es zur Übernahme Aussenstehenden angeboten und in deren individuellen Lern- und Bildungsprozesse eingearbeitet werden könnte (das machen sie dann wesentlich selbst).

Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, wie wenig diese zusammengehörenden, sich wechselseitig verstärkenden Ursachen des historischen Stillstands in radikallinker Theoriebildung berücksichtigt sind. Und es kommen, zu diesen quasi „inneren“ Motiven, ja auch noch starke „äussere“ Fortschrittshindernisse hinzu:


5. Es gibt im Rahmen des Bestehenden nur sehr hässliche Alternativen – es zu verlassen, wäre die schlimmste von allen. Die weniger hässlichen Optionen sind längst versucht und aufgebraucht. – Insofern gibt es auf lange Zeit nichts Alternatives. Heutzutage das hilfreichste wäre, zumindest als erster Schritt, die Fortschrittsspirale zu stoppen. Aber der Fortschritt hat längst solche Problemlagen aufgehäuft, soviel Reserven vernichtet, und die Aufnahme von soviel Hypotheken auf gelingende Weiterentwicklung erzwungen, dass jeder Stop bedeutet: in die Gegenrichtung abkippen, also in einen Abwärtssog, bei dem man nicht weiss, auf wie abgesenktem Niveau er anhält, so dass sich eine stabile Ausgangslage für einen Neuaufbau bildet.


5A.

Ich denke, dass die aktuelle Krise um Nordkorea ein Beispiel für ein Dilemma der genannten Art ist: Die Weltwirtschaft ist in einer Weise verflochten, dass regional begrenzte „traditionelle“ Kriege (ja selbst schon „asymmetrische“ wie in Syrien) sich desaströs auf die gesamte globalisierte Reichtumsproduktion auswirken. Insofern sind wirkliche militärische Lösungen obsolet, aber darum auch die Drohung damit. Wie nun mit dem gesamten aufgebauten Militärapparat umgehen, wie ihn abwickeln? Wie neue Formen der Diplomatie und Abstimmung finden? Schier unlösbare Aufgaben…Verglichen damit, ist es soviel leichter, sich an eine „konservative“ Definition von „Interessen“ zu klammern, und als MIC und Intelligence cummunity und Foreign policy establishment an den vorhandenen Strängen weiterzustricken. Für alles andre fehlt jede Vorstellung. Den Schein einer Strategie um jeden Preis aufrechtzuerhalten und dabei den drittem Weltkrieg nicht führen zu müssen, auf den man irgendwie hinarbeitet, ist schon unüberbietbar höchste Errungenschaft. Das Imperium hat nur sich selbst zum Inhalt, genauer, es existiert am besten als Strategie; sobald etwas erreicht ist, wird deutlich, wie elend simpel es konstruiert ist, nämlich als Herrschaft, gut einzig für vor-kapitalistische Raubaktionen, Monopolgründungen; Herrschaft ohne moderne oder auch nur Modernisierungs-Funktion. Was im MENA geschieht – die Kriegsdrohungen im Südchinesischen Meer – das soll in irgendeinem objektiven Interesse von irgendwas, irgendwem sein? Und, ja, es mag Profiteure geben, in Gestalt der unmittelbar beteiligten Gewaltanwendungs- und Gewaltmittel- und Rohstoff-Extraktions-Branchen – sie werden nicht entbehrlich, und bekommen (profitable, ja, sicher) Arbeit. Aber sonst? Dass man Interessengruppen ausser Rand und Band gewähren lässt – das soll Ausdruck von Stärke, von Fortgeschrittenheit sein?*) Für mich ist das Anzeichen nur für eins: dass die modernen bürgerlichen Gesellschaften sich derart selbst überfordert haben, dass sie ihre politsche Gewalt nicht mehr zureichend kontrollieren, und Gefahr laufen, sie in die Hände nicht nur stagnierender Apparate, sondern (allein schon durch ihr Beharren auf dem vorgefundenen Status quo) regressiver Minderheiten in diesen Apparaten fallen zu lassen.

*) entspricht Imperialismus, Imperium wirklich in irgendeiner Weise dem „Begriff“ des bürgerlichen Staates? wieso ist er begrenzt, wieso ist diese Grenze eine geschlossene, wieso zerfällt nicht jedes solche Gebilde gleich wieder in zahllosen Sezessionen? nicht vielleicht, weil es eben den STANDPUNKT, den politischen Willen zur Nation bei hinreichend vielen auf einem Territorium gibt (das ist, nebenbei, so etwa Krims Sicht bei Neoprene in den einschlägigen Debatten, den ich mir hier in grober Näherung zueigenmache), den Willen auch, in eine Nationen-Konkurrenz einzutreten (nebst dem Glauben, dafür taugliche Mittel auf dem durch diesen Willen als Staatsgebiet ausgeschnittenen Stück Erdoberfläche vorzufinden)? Und wie ist, auf diesem Hintergrund, die Absicht einzuschätzen, falls eine Truppe von Konzernführern und (NATO?)Militärs wahnwitzig genug sein sollte, solch ein Projekt zu erwägen, sich von allen Bindungen an nationale Bindungen freizumachen und ein weltumspannendes, supranationales Raub- und Versklavungssystem zu etablieren, gewissermassen einen planetaren Konzern-Kolonialismus? Kann so etwas auch nur ansatzweise gelingen? 

Und so, flächendeckend „global“, entlang einer Reihe abnehmendem Katastrophenpotentials, für:

  • Natur- genauer: Biosphärenzerstörung allgemein;
  • ökologische Fussabdrücke, Klimawandel, Rohstoffverknappung, atomare Verseuchung;
  • Genozide, Wanderungsbewegungen, Überbevölkerung, Fortschritts- und Fortgeschrittenheitsgefälle (Ungleichzeitigkeiten):
  • Kriegsfolgen, und Massen-Verarmung, Massen-Lohnarbeitslosigkeit, Ungleichgewichte im Altersaufbau verschiedener Bevölkerungen.

Die internen Umstellungen im Produktionsprozess, das Ausmass an gesellschaftlichem Konsens, das dafür erforderlich wäre, übersteigt das derzeit Mögliche bereits bei beinah JEDER einzelnen dieser Herausforderungen, erst recht bei allen zusammen. – Die künstliche Intelligenz immerhin wächst; angeblich. Wenigstens die.

5B.

Allein, um dies aufgehäufte Katastrophenpotential einzugrenzen, müssten die fortgeschritten-bürgerlichen Teile der Welt-Gesellschaft (die bilden nicht notwendig die Mehrheiten in ihren jeweiligen Nationalstaaten) um Grössenordnungen mehr Ressourcen auf ihre Politisierung, dh. innere Konsensbildung und die Steuerung der politisch-administrativen Abteilungen (in den jeweiligen Nationalstaaten) ihrer Gesamtreproduktion verwenden (die wiederum indirekte Organe der Kontrolle und Beaufsichtigung des ansonsten weiterhin „marktförmig“ verlaufenden Produktionsprozesses darstellen). Damit würde der sich angeblich selbst steuernden Marktwirtschaft jenseits des Staats noch eine zweite und wichtigere Kontrollebene über- und vorgeordnet – eine ZIVILGESELLSCHAFTLICHE nämlich; nicht grundsätzlich, aber sich ausdehnend auf immer mehr Themenfelder, die eben für den Bestand der spätmodernen Gesellschaften existenzgefährdende Bedrohungen entwickeln. Nicht nur das Ausmass der Bedrohlichkeit ist dabei entscheidend für Eingriffe, sondern auch die relative Bewältigbarkeit der Herausforderungen durch naheliegende und relativ glimpfliche Umstellungen auf der produktiven Ebene und ihrer Darstellung in Kosten. Was da fällig wird an Kostenerstattung, sind Nachforderungen für Schäden, die das „Wachstum“ unbekümmert um Folgen in Jahrzehnten bis Jahrhunderten angerichtet hat; zur Finanzierung der gigantischen Reparatur-Massnahmen sind nicht nur Profite heranzuziehen, sondern ganze Vermögen (und zwar nicht private, sondern solche von Unternehmen). Die Zielsetzungen, die eine solche Selbst-Ermächtigung fortgeschrittener Teile der Weltgesellschaft (mehr oder weniger in die Modernisierung geworfen sind heute ja alle) verfolgt, sind nach wie vor bürgerliche; nur bürgerliche auf fortgeschrittenem, „links-sozialdemokratischem“ Niveau. Es wäre falsch zu sagen: die Krise und Katastrophenträchtigkeit der Umstände erzwingt diesen Schritt, womöglich „bei Strafe des Untergangs“ – der ist ja seit Jahrzehnten immer gleich um die Ecke; solche Formeln sind nur Ausdruck der Erwartung, dass „das Rettende mit der Gefahr wächst“, als ob Untergang (oder „Absturz in Barbarei“) keine sehr reale Möglichkeit wäre. Wichtiger wäre, sich auf die Gelingens-Voraussetzungen für diesen Ermächtigungsschritt zu besinnen; und das ist das massenhafte Absolvieren von individuellen Bildungsschritten weg von Zutrauen in die Delegierbarkeit der „gesellschaftlichen Aufsichtfunktionen“ an politische Funktionsträger, denen durch Prozeduren wie Wahlen und Institutionen wie Verfassungen, Beamtenapparaten, Öffentlichkeit, Fachwissenschaften die grobe Richtung ihres Entscheidens (mit) vorgegeben wird – so, wie natürlich durch die Anforderungen der regionalen Wirtschaftsprozesse, deren erfolgreiches Weiterverlaufen diese Funktionäre absichern sollen. Erneut ist an dieser Stelle zu erinnern an den allgemein zunehmenden Druck, die Belastung aller knappen Ressourcen und Kapazitäten durch die Folgekosten des explodierten, und leider nur kapitalistisch (also viel zu primitiv) organisierten technologischen Forstchritts. Von daher ist fraglich, ob die genannte Aufgabe überhaupt noch zu meistern ist.

5C.

Ein progressiv-bürgerlicher Teil jeder nationalen wie der Weltgesellschaft bekommt es mit mindestens drei wichtigen Gegenspielern zu tun, von denen an verschiedenen Stellen des vorstehenden Textes bereits die Rede war – jede dieser gegnerischen Parteien zerfällt dabei in öffentlich aktive, womöglich politisch oder sonstwie verankerte Repräsentanten, Führungsfiguren, Vordenker, oder eben „Eliten“, einerseits, und grosse Bevölkerungs-Minderheiten andererseits, die entweder sich als mehr oder weniger mobilisierbare Gefolgschaft solcher (bereits vorhandenen) Eliten betätigen, oder aber solche Eliten hervorbringen und/oder deren Auftreten begünstigen, unterstützen, fordern: Bewegungen, die (traditionell) nach Chefs und einer Organisation verlangen.

Es ist genau das Verhältnis zwischen diesen beiden Abteilungen, in die sie jeweils zerfallen, das die drei Gegenspieler des progressiven Movements voneinander (und von diesem selbst) unterscheidet:

– die erste Gruppe ist die der Befürworter des Weiter-so, unbekümmert um die Kosten: die wurden etwas weiter oben „regressiv allein schon durch ihr Beharren auf dem vorgefundenen Status quo“ genannt; in dieser Gruppe sind die Eliten, die traditionellen nämlich, stark und verschanzt in den Stellungen, die sie von früher her, vor allem in Gestalt persönlichen Reichtums, Spitzenstellung in Unternehmen, Staatsapparaten, traditioneller Öffentlichkeit einnehmen. Ihre Gefolgschaft ist – nicht minder traditionell – passiv, dieser Elite autoritär ergeben, und bereit, ihre Zustimmung immer wieder, etwa in Wahlen, bisweilen auch mal in Demonstrationen, zum Ausdruck zu bringen. – Zu mehr aber auch nicht.. Denn: Das Versprechen der traditionell-bürgerlichen (va. politischen) Eliten war ja gerade, dass ihre Gefolgschaft sich nicht kümmern und sie nur machen lassen brauche. Im Mass, wie dies Versprechen brüchig wird, zerbricht das Gefolgschaftsverhältnis; mit trotziger Obstruktion und Sabotage, bisweilen der verzweifelten Gegenwehr dieser Bevölkerungsgruppe gegen die anstehenden Zumutungen ist aber noch lange zu rechnen.

– die zweite Gruppe besteht aus solchen Bevölkerungsteilen, die verspätet in den Modernisierungsprozess eintreten, und für die fortgeschrittene Erfahrung der Progressiven vorerst unempfänglich sind. Unverdrossen rücken Angehörige dieser Minderheiten in die noch immer vorfindlichen Karrieren ein, und besetzen die Führungspositionen, für die sich ansonsten kaum noch Personal (ausser den Sprösslingen der alten Eliten) finden liesse. In dieser Gruppe besteht das unverbrüchlichste Verhältnis zwischen Führern und Gefolgschaften; ihr zentrales Motiv ist offensives Geltendmachen ihrer „konservativen“ sub-kulturellen Gruppenwerte gegen die Restgesellschaft. Sie denken in Konkurrenz- und Gruppen-bezogenen Exklusionskategorien, gern auch rassistisch unterlegt – also klassisch „rechts“, rechtsautoritär, im schlimmsten Fall „faschistisch“ (was dann auch nur eine weitere Drehung in Richtung totalitärer Radikalisierung und Mobilisierung darstellt). Diese Gruppe ist bereit, einigen Enthusiasmus zu investieren, sofern er die ihm gemässen („populistischen“) Angriffspunkte und („charismatischen“) Führungspersonen geliefert bekommt. Aber – es muss stetig aufwärts gehen, persönlich wie in der Gruppe; im heutigen Welt-Krisen-Umfeld kann kein Führer dieser Anforderung auf Dauer genügen. Die entsprechenden Bewegungen gehen, verschoben um ein, zwei Generationen, den Weg ihrer urban-metropolitanen Vorläufer, die Eliten verschmelzen mit den bereits vorhandenen (was die Anhänger früher oder später als „Verrat“  deuten); die enttäuschten und ernüchterten Gefolgschaften aber werden, wenn der Prozess vorsichtig gehandhabt wird, von progressiven Bewegungen bei Meidung unnötiger „kultureller“ Reizprojekte („Identitäts-Politiken“, die ihrerseits ja durchaus „liberale“ Exklusions- und Klassenhabitus-Elemente aufweisen) durch den Eindruck von deren Disziplin und Effizienz gewonnen und durchaus nachhaltig „integriert“ – sofern die Arbeit am Abbau des Fortschrittsgefälles (und die theoretische Reflexion darüber) aufseiten der Progressiven halbwegs ernstgenommen wird.

– die dritte Gruppe ist die derer, die sich – aus welch unterschiedlichen persönlichen Gründen auch immer – der Teilhabe am öffentlichen Leben und den dort sich stellenden Aufgaben verweigern, indem sie sich in private oder subkulturelle (ideologische) Fluchträume zurückziehen (das Internet wimmelt nur so davon). Sie sind unorganisiert (ob da noch Gurus verehrt und Vortragsredner angehört werden, ändert daran nichts), und stellen – abgesehen von Einzelfällen, Einzelgruppen, die aber selten grössen Zulauf haben werden – kein Reservoir für politische Willensbildung (und wenn, dann allenfalls libertäre, kulturell-rechte) dar; wenn Angehörige dieser Gruppe sich je in etwas einig waren, dann in der Ablehnung der herrschenden Mächte. Sie nehmen an der Arbeit der progressiven Minderheit nicht teil, bekämpfen sie aber auch nicht, und können für Mitarbeit in umschriebenen Fällen gewonnen werden, wenn ihre jeweiligen Besonderheiten gelten gelassen werden. Eine weitere Herausforderung an den progressiven Bevölkerungsteil – als gäbe es da nicht schon genug.

Diese drei gegnerischen Gruppen sind aber nicht Grund der aktuellen Ohnmacht der Progressiven, vielmehr theoretische Unklarheit und das Fehlen von Formen für permanente organisierte interne Verständigung – das zentrale Organisationselement überhaupt. An der Stelle deutet sich die Bewältigung der Aufgabe, Wissen vergesellschaftet zu verarbeiten, als die eigentliche grosse verbleibende Herausforderung an.

5D.

Die zivilgesellschaftliche Progression wird, entlang der Reihe bereitliegender, immer „linkerer“ Vergesellschaftungskonzepte fortschreiten, und muss es, sofern sie die geringste Chance haben soll, die oben skizzierte Agenda abzuarbeiten – indem sie sich den Aufgaben entlang ansteigendem Schwierigkeitsgrad zuwendet. Eine linkssozialdemokratische Phase wird dabei wenig mehr leisten können als die ersten vier Punkte national und im Weltmasstab anzugehen; um kulturelle Gefälle (nächste 4 Punkte) zu bewältigen, bedarf es einer „inklusionistischen“ Horizont-Erweiterung; die nachfolgenden 4 (ökologischen) Punkte werden nur noch von kollektivistisch organisierten Reproduktionsgemeinschaften, die ihr Handeln weltweit koordinieren, bewältigt werden können. Naturzerstörung zu beenden, wird letztlich nicht in ihrem Gesichtskreis liegen, da muss etwas von „weiter aussen“ entgegenkommen; wenn meine Überlegungen im Rahmen der Theorie zum notwendigen „Scheitern der Moderne“ stimmen, darf das auch erwartet werden.

5E.

Mit der „zivilgesellschaftlichen“ Orientierung würde die „politizistische“ Fixierung der Fundamental-Opposition auf Eliten, Regierungen, Parteien, Medien durchbrochen; an ihnen vorbei verhält man sich, auf diesem Standpunkt, als Bevölkerungsgruppe zu andern solchen (auch, wenn diese andern den Standpunkt noch nicht einnehmen). Auch diese Änderung der Blickrichtung hat eine Härte; denn die traditionelle Politik-Kritik stellt sich mit den Kritisierten auf eine Stufe und nimmt die Form einer Debatte unter Angehörigen einer imaginären politischen Klasse an. Die Aufgabe, um die es jetzt und hier geht, ist aber um genau die Stufe anspruchsvoller, von der oben gesagt wurde, sie werde oberhalb oder hinter der Ebene der Auseinandersetzungen in medialer Öffentlichkeit und Parlamenten (zT auch Gerichten, oder mit Regierungsverlautbarungen) geführt: Man stellt sich mit und neben den andern, nicht-politisierten Bevölkerungsgruppen (eben jenen, von denen eben die Rede war) auf, und hat sie zu Adressaten, so wie es sonst nur im Dialog der Politik mit der Wahlbevölkerung stattfindet. Und selbst wenn dieser Dialog nur einseitig stattfindet, oder mit der Politik (genauer: den nicht-progressiven Fraktionen) als Repräsentanten der nicht-antwortenden anderen Gruppen geführt wird, ändert sich etwas; das Vorbild könnte Schule machen, und wenigstens Teile der andern Gruppen in den Dialog hineinziehen. – Das bedeutet unter anderm, dass sich Progressive in der Öffentlichkeit in einer permanenten Begründungs- und Vermittlungs-Verpflichtung sehen – etwas, dem sie derzeit inhaltlich kaum gewachsen sein dürften. Sie verfügen ja kaum selbst über die nötigen – derzeit vor allem ökonomisch-theoretischen – Einsichten. – Mit diesen Gedanken ist etwas behauptet wie ein „Primat der Verständigung“: Zuverlässig organisiertes, effizientes Handeln, etwa koordiniertes Abstimmen, Engagement in Ehrenämtern, Freistellung Einzelner für Spezialaufgaben usw, schliesslich praktische politische und soziale Arbeit von der Gemeinde-Ebene aufsteigend, erwächst aus korrekter, wissensbasierter und differenzierter Einsicht aller Beteiligter und der Verständigtheit darüber. Das, nebenbei, schliesst jede Form von (Gruppen)Zwang aus: Einsicht und Übereinstimmung darin kommt nur zwanglos zustande, oder es ist keine. Fast wichtiger: Auch die praktische Hilfe, die Progressive sich untereinander leisten angesichts vielfältiger Belastungen durch die allgegenwärtig krisenhafte Zuspitzung von Alltagsnöten, ist ein entscheidender Faktor ihres Erfolgs.  


6. Die Erwartungen und Ängste aller Beteiligter sind stark geformt durch historische Erfahrung – man rechnet vor allem mit Wiederholungen vergangener Katastrophen (Weltkrieg, Wirtschaftskrise, Totalitär-werden der Herrschaft), man will dieses Mal vorbereitet sein. Die Deutungsmuster und Begriffe dafür sind im allgemeinen Bildungsgut vorhanden, entsprechende Vorstellungen können leicht gebildet werden. Die spezifisch neuen Katastrophenlagen hingegen sind schwer greifbar und nicht verstanden; sie müssen vorweggenommen und erschlossen, vorgestellt werden, aktiv; dürfen nicht erst wieder sich ins Gedächtnis brennen („nie wieder X!“), nachdem sie erst einmal über eine zunächst unerfahrene, nichtsahnende (wirklich?) Menschheit „hereinbrachen“


6A.

Die Phänomene, in denen sich die Ansätze zu einer zivilgesellschaftlichen Überbietung, Überlagerung oder „Hintergehung“ des politischen parlamentarisch-administrativ-judikativ-medialen Systems (dessen Vertreter es nach wie vor für das unüberbietbar höchste halten: Parteien als Organe der Willensbildung) zeigen, könnten – neben den etwas schrilleren, zugleich aber auch weniger fundamentalen Ängsten (die aufgezählt wurden) als weiteres Beispiel für solch ein „rückwärts“ gewandtes Unverständnis dienen: Sie werden grundsätzlich von „politisierten“, von Angehörigen der „politischen Klasse“ (den aktiv involvierten wie den ebenbürtig die Aktionen der aktiven Mitglieder Nachvollziehenden und Begleitenden) als Ausdruck von Entpolitisierung, als Zurückfallen hinter ein bereits erreichtes Organisations- und Konsensniveau gedeutet. Das Verwirrende für die Akteure auf der politischen, der Staats-Ebene, ist: dass ihre zivilgesellschaftlichen Gegenspieler keine sichtbare Organisation geschweige denn Hierarchie oder weitreichende Arbeitsteilung benötigen, um handlungsfähig zu sein. Die Angehörigen der „politischen Klasse“, die aktiven wie di enur nachvollziehenden (aber jederzeit zum Eintritt in eine politische Position Bereiten) bemerken zugleich den Mangel der Akteure auf zivil- oder, wie man auch sagen könnte: genuin gesellschaftlicher Ebene: Die Initiativen und Themensetzungen dort sind zerfahren und zersplittert, wachsen nicht zu einem kohärenten, alle Politikfelder abdeckenden System von normativen Einstellungen (denn um die ginge es!) heran. Eine im Rahmen dieser Thesen zentrale Behauptung meinerseits lautet: Ein solches, auf Basis eines zivil-gesellschaftlichen, vor-politischen Konsens hervorgebrachtes und von hinreichend vielen geteiltes System gesellschaftlicher Normen, das in allen wesentlichen (nicht indifferenten) Entscheidungssituationen aus gegebnen Erfahrungsständen einen, diesen Normen gemässen politischen Willen abzuleiten gestattet – ein solches System kann es unter „bürgerlichen“ Voraussetzungen nicht geben.

Warum nicht?

Weil die Bürgerlichkeit der Vergesellschaftungskonzepte so gut wie aller, die heute in einer der fortgeschrittenen kapitalistischen Industriegeselslchaften leben, auf ihrem unzulänglichen und von niemand je thematisierten Weltverhältnis beruht und daraus zu erklären ist. Und nochmal, für die Materialisten unter denen, die dies hier lesen: Die kulturelle Vermittlung des Wissens, das die Kultur fortgeschrittener Gesellschaften als geltendes, „durchgesetztes“ (aber nicht allseits begriffenes, in seiner Begründung verstandenes) Regelsystem bestimmt – diese Vermittlung betrifft eine wenn nicht  D I E  ZENTRALE PRODUKTIVKRAFT-DIMENSION – die Art nämlich, wie diese Geselslchaft in ihrer Produktionsweise mit NICHT-Wissen, Risiken, Forschung, Vorwegnahme von Möglichkeiten, Begriffsbildung oin dieser Hinsicht, umgeht – kurz: Sie betrifft die Lernregel oder Lernstrategie dieser Gesellschaft und Produktionsweise.

Und da ist als unüberwindliches Hindernis für systematische zivil-gesellschaftliche Organisation auf bürgerlichen Grundlagen festzuhalten: Die Lernregel all dieser Unmassen von Leuten hat (anders als die Kultur, in der sie leben; zumindest die grundlegenden Prinzipien; die aber eben nicht so angeeignet werden) nichts vorgesehen als Strategie des Vorab-Sich-Verhaltens zu Möglichkeiten, für die es Anhaltspunkte gibt – in ihren Lebenseinstellungen, in den von ihnen befürworteten Grossprojekten, dem technischen Fortschritt, der Wohlstandsmehrung, gibt es keine Risiko-Abschätzung – ausser da, wo etwas drastisch ins Leben eingebrochen ist, soweit es erinnert wird: DAMIT allenfalls rechnen sie als einer Möglichkeit.

Es gehört somit aus der Warte des „etablierten“ Bevölkerungsteils geradezu zur gegenwärtigen Staatsräson (die von allen etablierten Partein und „Eliten“ getragen wird, dass Schäden erst einmal hinreichend schlimm sich entfaltet haben müssen, damit auf sie reagiert wird – dh Ressourcen von den eigentlich massgeblichen Projekten der Gesellschaft darauf verwendet werden. Selbst dann ist die Reaktion wenig von Vorsicht geprägt, es wird nicht etwa auf diesen Modus – spätestens jetzt – umgeschaltet, sondern das Improvisieren, Stückeln und Verschleppen von Lösungen, auch das Bemänteln und zu ignorieren Versuchen – all das geht weiter. Die Einbrüche, die da zu bearbeiten sind, gehören einfach nicht zum Normalverlauf, und werden demgemäss irgendwie nicht ernstgenommen – es sei denn, es kommt ganz katastrophal. Damit die Katastrophe sich nicht material realisiert, sondern noch rechtzeitig eingegriffen wird – dafür muss der progressive Bevölkerungsteil immer wieder sorgen, indem er mit einer politischen Katastrophe droht, und die adäquaten Krisenbewältigungen erzwingt. Aber auch dieser Bevölkerungsteil verhält sich passiv, unsystematisch, bloss reaktiv – einzig die höhere Risiko-Sensibilität und schnellere Alarmierbarkeit, auch Mobilisierbarkeit zeichnet ihn vor den andern aus.

Es mag sein, dass sich entlang so gemachter (im wörtlichen Sinn) Erfahrungen dann auch Routinen ausbilden, oder gar Institutionen; das ist auch bitter notwendig, denn der Krisenkatalog, den ich oben entworfen habe, wird nicht an seinen glimpflichen Anfangspunkten stoppen, sondern die Einschläge werden destruktiver, die Reaktion nimmt bald schon die ganze Leistungsfähigkeit der Bevölkerung der fortgeschrittenen Industrienationen in Anspruch – eben wie der Krieg, den alle befürchten; der nicht auszuschliessen ist, aber die whrscheinlichste Entwicklung steht, was die Anforderungen betrifft, einem Krieg in nichts nach.

Das Armutsthema: Altersarmut – Lohnarbeitslosigkeit – Armut durch Ressourcenverknappung („alles wird teurer“) wird die progressive (links-bürgerliche, „sozialdemokratische“) Organisierung des dazu bereiten Bevölkerungsteils erzwingen und in dem Sinn: ermöglichen, motivieren, herbeiführen. Danach ist sie (hoffen wir es für sie) gerüstet, um die nächst-anstehenden Herausforderungen zu bestehen, nämlich die Bearbeitung der Reichtums- und vor allem kulturelle Fortschrittsgefälle nach „aussen“ – zweite Krisen-Gruppe (Genozide/Bürgerkriege und deren Folgen – Migration – Überbevölkerung(); man darf dem ganzen gerne den Namen Imperialismus-Verheerungen geben; Schuldige benennen und kennen, hilft dann aber nichts. Das „Nation building“, das die Neoliberalen grossmäulig ankündigen, wird dann tatsächlich stattfinden, mit ganz anderen Aufwänden als den heute betriebenen; Teile der progressiven Gruppen werden sich in die Betreffenden regionen begeben müssen, Teile des nationalen Reichtums (der ohnehin bereits beansprucht wird für die inneren Aufgabenlösungen) werden dorthin gelenkt werden müssen.

Und auch da kann nur gehofft werden, dass die Herstellung halbwegs Gefälle-freier Lebensverhältnisse stattgfeunden hat, wenn die ökologischen Krisen beginnen, in vernichtender Weise den Globuis heimzusuchen, und die gesamte weltweite Reichtumsproduktion vielleicht gerade ausreicht, um die schlimmsten Schäden abzuwehren.

Spätestens dann wird die Kollektivierung der Produktionsmittel und ihre Verwaltung im Konsens „erzwungen“/ermöglicht/motiviert/“herbeigeführt“. Konsens wenigstens hinreichend vieler.

Aber nach dieser ungeheuren Anstrengung wird sich die Frage des Weltbezugs der Weltgesellschaft in bedrängender Weise neu stellen, nämlich als Frage nach dem Sich-Reproduzieren in und mit der Natur – angefangen bei der eigenen.


7. Aber dass sie so unerwartet waren bzw sind, ist nur Ausdruck dessen, dass in der gesamten Gesellschafts-Organisation etwas in fundamentaler, „epochaler“ Weise nicht berücksichtigt, nicht bedacht wurde, und sich allererst durch katastrophale Folgen (eben die genannten; die sich nie, nie wiederholen dürfen! nun, es wird neue, andre geben) dieser Nichtbeachtung fühlbar macht. Dann ist es freilich noch nicht begriffen; die Anstrengungen, um es zu begreifen, und die, mit den Folgen der Versäumnisse fertigzuwerden, behindern sich gegenseitig und streiten um die ohnehin knappen Ressourcen der relativ kleinen Gruppen, die sich dem Problem stellen.

Ende der Antwort an flatter.


Meine eigentliche Kernthese aber ist: Es ist das Projekt der MODerne selbst, das mit fundamentalen Mängeln behaftet ist. Und das wird nur darum nicht längst bemerkt, weil dieses Projekt von Gruppen mit ihm nicht gemässen und viel primitiveren Rahmen-Einstellungen „oberflächlich“ aufgegriffen und in IHREM Sinn weiter vorangetrieben wurde und wird. Genuin MODerne Menschen wären seit langem an der Unausführbarkeit des Projekts (auf seinen genuin eigenen Grundlagen) verzweifelt und zum Nachdenken übergegangen. Stattdessen zeigen sich die Basis-Mängel zunächst in „gesellschaftlichen“ Formen (ironisch zitiert: in ihrem Überbau), in denen versucht wird, MODernität überhaupt zu organisieren und möglich zu machen. Auf lange Zeit scheint der Mangel nur politisch, gesellschaftlich, und durch Änderungen der „Systemform“ reparierbar. Je mehr aber sich diese Lösungsversuche in Richtung des der MODerne einzig angemessenen, nämlich kollektivistisch-kooperativ koordinierten (arbeitsteiligen Auf-)Teilens der MODernen Riesen-Aufgaben bewegen, desto bestürzender wird sich die Unlösbarkeit dieser Aufgaben (und die Sinnlosigkeit MODerner Lebensentwürfe) bemerkbar machen: die Arbeit kann (auf)geteilt werden, das dem von allen zu teilenden Entscheiden vorausliegende Wissen aber nicht. (Vor allem prognostisches Wissen, wo es um Risiko-Abschätzungen geht: Zentrale Kategorie in einem REPRODUKTIONS-Prozess, der unter der Drohung seiner Schwächung, Beschädigung, Nicht-Wiederholbarkeit steht, und dazu noch in möglicherweise lohnenden (wieder Prognose!) Hinsichten verbessert werden soll – zumimndest soll das versucht werden (welche Versuche sollen gemacht, welche unterlassen werden? Lassen wirs uns von Experten erzählen, oder gleich: diktieren? – Experten,  die wir alle auf EINEM winzigen Gebiet sein sollen, und auf unendlich vielen andern nicht?)

Eine noch weiterführende, freilich auch vagere Prognose (Achtung! vgl. oben Erläuterung C zu These 1) lautet: Es gibt in der kulturellen MODerne (so wie in jeder andern Epoche vor ihr) von selbst sich entwickelnde Tendenzen, die über sie hinausführen. Und wie in jeder voraufgehenden Epochenkrise sind diese Tendenzen im Sinne der Kategorien der Vorepoche vermeintlich völlig irrelevant, marginal, und unspektakulär. Darum ist man nicht auf sie aufmerksam; allenfalls die Personengruppen, die Träger dieser (unbewussten, zunächst auch unbegriffenen) Tendenzen sind, ahnen etwas, und gelangen schliesslich zu einem gewissen Bewusstsein von der Rolle, die sie da einnehmen. Sie entwickeln die Keimformen „im Schoss der alten Gesellschaft/Epoche“, die zuletzt als einzige imstand sind, die krisenhaft oder chronisch sich entwickelnden Gebrechen der Vorepoche anzugehen; die umgebende Gesellschaft wird nur allzu gern auf dies Angebot zugreifen. Allerdings wird sich dieser Epochenübergang von allen voraufgehenden dadurch unterscheiden (auch alle ihm voraufgehenden unterschieden sich von den ihnen voraufgehenden): Dass es unmöglich sein wird, ihn „kulturell“ zu verarbeiten. Die neugefundene Lebensform sperrt sich gegen ihre vor-NACHMODerne, oder gar vor-MODerne Aneignung; sie wird nur solchen vermittelt, es können nur solche an ihr teilhaben, die sie sich authentisch ganz zueigen machen. Der Grund dafür ist, dass in dieser Lebensform die LebensFÜHRUNG und Alltagseinrichtung Basis für alle weitergehenden Projekte wird (statt von diesen Projekten überformt und überwältigt zu werden).

Aber genau solch ein Aufbau des gesamten Verhältnisses zu Welt und Andern aus den Bedürfnissen der Lebensführung und Alltagseinrichtung wird von den Trägern der epochal vorangehenden Einstellungen für komplett unmöglich und verrückt gehalten. Erst die erfolgreiche Ausführung könnte sie überzeugen (oder eine theoretische Vorwegnahme, wie ich sie in meinen Überlegungen versuche zustandezubringen; die aber notwendig so umfangreich ausfällt, dass ohne sehr spezielle Motivation niemand bereit sein wird, sich darauf einzulassen.)